Jedes Jahr werden wir mit einer Masse von Laufschuhen überhäuft: Ständig neue Materialien, andere Farben, unglaubliche „Innovationen“. Doch unterscheiden sich die Modelle – hinsichtlich Materialien und Nachhaltigkeit – wirklich voneinander? Wir haben zwölf Marken zum Thema “Nachhaltigkeit und ökologische Belastung von Laufschuhen“ befragt.
Professor Gert-Peter Brüggemann ist über 30 Jahre in der Branche tätig. Der 67-Jährige ist Professor für Biomechanik und ehemaliger Leiter des Instituts für Biomechanik und Orthopädie an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er arbeitete mit Asics, Brooks und Nike zusammen. Mittlerweile hat er eine eigene Laufschuhmarke gegründet. Kurzum: Der Mann hat hunderte, wenn nicht tausende Paar Laufschuhe zu Gesicht bekommen, auseinandergenommen und analysiert.
Also: Inwiefern unterscheiden sich die Modelle wirklich voneinander? „Meistens nur im Design. Die Zusammensetzung eines Laufschuhs ermöglicht nur kleine Variationen in der Rezeptur, die Zutaten sind aber oftmals gleich oder zumindest sehr ähnlich“, so Brüggemann.
Was ist in all den Laufschuhen enthalten, die uns im Alltag begegnen? Das Obermaterial, der Teil des Schuhs, den jede*r von oben sieht, ist meistens aus gestricktem Stoff oder (Wild-) Leder. Die Sohle seit Jahrzehnten aus Kunststoff und Gummi.
Früher zerbröselte die Sohle
In einem Gespräch gibt Brüggemann Auskunft über die Beschaffenheit der Sohlen fast aller Laufschuhe am Markt: „Seit einiger Zeit wird Ethylen-Vinylacetat-Copolymere (Kurzzeichen EVAC, früher auch EVA) als Schaum für die Mittelsohlen von Laufschuhen verwendet. Das war der Beginn der modernen Laufschuhe. Denn neben der Beschaffenheit und den für die Anwendung günstigen mechanischen Eigenschaften machte er den Schuh leichter. Wesentlich leichter als den menschlichen Fuß, was eine große Sache war“, sagt der Experte.
„Schuhe waren zuvor genauso schwer wie ein Fuß, etwa 900 bis 1000 Gramm. Mittlerweile wiegen Schuhe weniger als 300 Gramm. EVA als Schaum schaffte den Durchbruch, da er auch einfach zu verarbeiten ist. Der Nachteil von EVA ist seine geringe Elastizität und seine eingeschränkte Belastbarkeit sowie sein Verschleiß.“
Die Verwendung von Polyurethan (PU) in den Sohlen entwickelte sich parallel. Gute Erfahrungen wurde bei stark strapazierten Schuhen wie etwa Arbeitsschuhen gemacht. PU weist jedoch eine höhere Dichte auf und ist somit schwerer. Dazu verändert es etwa bei Sonneneinstrahlung mit der Zeit seine Farbe und seine Materialeigenschaften bei längerer Nutzung. Schuhe aus den 80ern mit weißer PU-Sohle sind heute im besten Fall vergilbt, im schlimmsten Fall zerbröselt.
Mit Thermoplastik Polyurethan (TPU) wurde ein Material entwickelt, das sich durch eine geringere Dichte ausweist, eine sehr hohe Elastizität auch bei geringer Steifigkeit zeigt und vor allem eine hohe Belastbarkeit hat. Es ist damit mehr oder weniger ideal für die Verwendung in einer weichen, elastischen und vor allem haltbaren Mittelsohle für den Laufschuh. In den vergangenen fünf Jahren ist TPU mit verschiedensten Beimischungen wohl das meist eingesetzte Material bei einem Großteil der Marken.“
Brauchen wir so viele Modelle?
Laufschuhe unterscheiden sich also nicht in der Zusammensetzung, nur im Aussehen? Warum gibt es dann so viele Modelle? Und welche Belastung stellt die schiere Masse an produzierten Schuhen für die Umwelt dar?
Diese und viele andere Fragen wurden in der Redaktion vor einigen Monaten gestellt. Sie sind die Grundlage für eine Reportage im Oktober, die mit diesem Artikel beginnt. Wir stellten Fragen – den Marken wie auch uns selbst. Wir sprachen mit Herstellern und Expert*innen über die Nachhaltigkeit und ökologische Belastung von Laufschuhen. Fragen wie:
- Was ist eigentlich in unseren Schuhen enthalten?
- Wie werden sie hergestellt?
- Mit welchen Innovationen beschäftigen sich die Marken?
- Warum gibt es eigentlich keine oder nur sehr wenige Reparaturprogramme?
- Wie stark beeinflussen sich Käufer*innen und Anbieter gegenseitig?
- Was kann von beiden Parteien getan werden, um Veränderungen herbeizuführen?
Nur 4 von 12 Marken antworteten
Von Beginn an wurde entschieden, die Produktionsbedingungen nicht zum Teil der folgenden Reportagen zu machen. Dieses Thema ist in der Bedeutung zu groß, als dass es als Nebenaspekt beiläufig beleuchtet werden sollte.
Das Ziel war, mit den Marken in einen Dialog zu treten, zu verstehen, woraus Laufschuhe gemacht sind, welche Schritte unternommen werden, um Bedingungen zu verbessern und wie sehr das Konsumverhalten den Takt vorgibt.
Zwölf Marken wurden im Zeitraum von drei Monaten kontaktiert. Zehn von ihnen reagierten auf die Anfrage einer Beantwortung eines Katalogs von zwölf Fragen, die Themenkomplexe wie Produktstrategie, Diversifikation beim Materialeinsatz und unternehmensinterne Zielsetzung in Bezug auf den Einsatz umweltfreundlicher Materialien behandelten.
Vier Marken standen Rede und Antwort, sechs Marken lehnten die Teilnahme nach Erhalt des Fragenkatalogs aus unterschiedlichen Gründen ab. Im Sinne der Transparenz gibt ein Informationskasten Aufschluss über die Reaktion der Marken beziehungsweise deren Beweggründe, nicht teilzunehmen.
„Die Branche ist noch nicht bereit“
Die Auswirkung des Menschen auf das Weltklima ist 2019 zum gesellschaftlichen Thema geworden. Es wird bewusster konsumiert, öfter hinterfragt und für Klimaschutz demonstriert. Die Industrie wird von der Gesellschaft in die Pflicht genommen, den CO2-Ausstoß zu senken und umweltbewusster zu produzieren.
Vielerorts wird das auch schon beherzigt, sagt Professor Brüggemann: „Am Anfang wurde sich bei der Verarbeitung von Materialien für Schuhe keine Gedanken gemacht. Mittlerweile ist das anders. Da wird verstärkt auf die gesundheitliche Sicherheit der Arbeiter geachtet.“
„So werden Dämpfe und Ausgasungen, die bei der Herstellung und Verarbeitung entstehen, konsequent und sorgfältig abgesaugt. Lange wurde der Arbeitssicherheit auch in diesem Bereich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Heute sieht das nicht nur in Europa und Nordamerika völlig anders aus. Auch in Bezug auf eine mögliche toxische Wirkung von Kunststoffen ist die chemische Industrie wesentlich offener geworden, sich der Kritik zu stellen und Änderungen vorzunehmen. Sowohl Europa als auch Asien denkt um – vielleicht manchmal noch nicht schnell genug.“
Professor Gert-Peter Brüggemann
In der Laufschuh-Industrie ist vielfach große Offenheit, aber auch totales Desinteresse an der Thematik zu beobachten. Manchmal scheint man zu glauben, kritische Fragen mit gutem Marketing abzufedern, so Brüggemann. „Wie lange sich diese Haltung geleistet werden kann, bleibt abzuwarten.“
Keine „Bio“-Alternative in Sicht
Im Hinblick auf die sich verändernde Gesellschaft war die Bestrebung von Achilles Running, nicht anzuprangern, sondern zu verstehen und zu entdecken.
Viele Materialien bieten momentan zum Beispiel noch keine Alternative. „Nehmen wir Bambus als ein möglicherweise geeignetes nachwachsendes biologisches Material für Sohlen. Wird das Material aus seiner biologischen Umgebung entfernt und von der natürlichen Nährstoffversorgung abgekoppelt verändert es seine mechanischen Eigenschaften und wird zum Beispiel mit der Zeit steifer. Biologische Alternativen zum Kunststoff, die die gesamte Mittelsohle ersetzen, sind wohl in der näheren Zukunft nicht zu erwarten, wohl aber Teilersatz durch Beimischung auch biologischer Materialien“, erklärt Professor Brüggemann.
Auch Michael Hackner, Inhaber von Runnertune, der für die Reportage befragt wurde, muss sich bei der Produktion seiner Schuhe mit einer gewissen Alternativlosigkeit abfinden:
„Die Menschen haben ja auch einen Anspruch an ein Produkt, für das sie Geld ausgeben. Was nützt es denn, biologische Materialien einzusetzen, wenn diese den Anforderungen nicht standhalten?“
Michael Hackner, Runnertune
„Wir brauchen ein Material, das langlebig ist und ohne Träger die mechanischen Eigenschaften halten kann. Auch Kunststoff kann das nebenbei nicht komplett. Für mich ist ein wesentlicher Punkt, Materialien zu finden, die langlebiger sind. In der Industrie gibt es keine Alternativen, allerdings bedeutet das nicht, dass es in Zukunft keine geben wird“, bestätigt Gert-Peter Brüggemann die aktuelle Situation.
Komplett „Bio“ zu produzieren, ist derzeit also gar nicht möglich? „Nein“, bestätigt Lars Lunge, Mitgründer der Laufschuhmarke Lunge, im Interview. „Das können wir derzeit noch nicht erreichen. Allerdings können wir uns auf andere Aspekte konzentrieren und da eine Wirkung erzielen.“
Recycling und Upcycling
Die Energievermeidung, beispielsweise durch die Reparatur von Schuhen und die Langlebigkeit der Produkte, ist ein Weg. Unternehmen betreiben „Upcycling“. Runnertune setzt auf Kork aus portugiesischen Weinflaschen, Lunge auf PET-Flaschen und CDs. Der Branchenriese adidas, der für unsere Reportage nicht zur Verfügung stand (siehe Listen unten), wirbt seit Jahren mit dem Partner Parley für die Nutzung von aufbereitetem Plastikmüll in seinen Schuhen.
Künftig könnte die „Circular Economy“ realisierbar sein. Hier ist das Ziel einen Ausgangsstoff nach der Abnutzung zurück in den Kreislauf zu bringen, um ihn für denselben Zweck wiederverwenden zu können.
Während der Recherche für diese Reportage ist deutlich geworden, dass es an vielen Stellen schon Fortschritt gibt, über den es sich lohnt, zu sprechen. Ist es nicht besser, wenn ein Schuh länger genutzt werden kann, obwohl er aus Plastik besteht, als wenn biologische Materialien verwendet werden, die den Lebenszyklus massiv einschränken?
Kleine Marken sind offener
Die Rechnung „Bio“ geht nicht immer auf, eben weil sie aus vielen Faktoren besteht. Allein schon deshalb war es das Ziel, mit dieser Reportage in den Dialog mit der Branche zu treten.
Es wurde aber auch deutlich, dass viele Marken in der Zeit von #FridaysforFuture und immer lauter werdenden Forderungen, gerechter und besser zu produzieren, davor zurückschrecken, über das Thema zu reden. Nur die wenigsten möchten in einem Umbruch zugeben, was sie noch nicht können.
In den kommenden Wochen werden Runnertune, Brooks, Asics und Lunge zu Wort kommen und über ihre Fertigung sprechen. In diesem Monat veröffentlichen wir die Fragen und Antworten der Marken. Wir hoffen, damit einen Einblick in eine Branche geben zu können, die sich teilweise im Umbruch befindet, allerdings vor allem an der Spitze noch viel tun kann.
Die Nachfrage bestimmt das Angebot oder das Angebot weckt Begehrlichkeiten. In dieser Phase befindet sich der Markt, dem weiterhin Wachstumssprünge zugetraut werden. Mehr Käufer*innen bedeuten mehr Schuhe. Und mehr Schuhe bedeuten mehr Käufer*innen.
Dass es jedoch auch anders geht, zeigen die kleineren Marken, die verstärkt auf Langlebigkeit und transparenten Materialeinsatz bei ihren Schuhen achten. Vielleicht irgendwann mit einem Nachahmeffekt.
Welche Marken haben mitgemacht und welche nicht?
Für die Reportage haben wir die folgenden Marken kontaktiert:
- Adidas reagierte verzögert auf unsere Anfrage, schickte uns dann eine Zusammenfassung ihrer relevanten Thema, beantworteten den Fragenkatalog nicht direkt.
- Nike reagierte auf unsere wiederholten Anfragen nicht. Eine Stellungnahme blieb aus.
- Brooks beantwortete den Fragenkatalog.
- Asics beantwortete den Fragenkatalog nicht.
- Saucony arbeitet an „neuen Innovationen und Möglichkeiten für mehr Nachhaltigkeit“, konnte unsere Fragen jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten.
- On Running war zum jetzigen Zeitpunkt nicht in der Lage, unsere Fragen zu beantworten, stellte dies aber zu einem späteren Zeitpunkt in Aussicht.
- Lunge wurde in der Manufaktur vor Ort besucht und stand für ein Interview zur Verfügung.
- Runnertune stand für ein telefonisches Interview zur Verfügung.
- New Balance verwies auf die Unternehmensseite, konnte zum aktuellen Zeitpunkt jedoch keine gesonderte Stellungnahme abgeben. Weitere Informationen in der Zukunft wurden in Aussicht gestellt.
- HOKA One One bearbeite den Fragenkatalog intern, nahm dann jedoch Abstand von einer Teilnahme. Eine offizielle Begründung wurde uns nicht genannt.
- Under Armour schloss eine Teilnahme nach Anfrage aus.
- Puma reagierte auf unsere Anfrage nicht.
Im Oktober 2019 werden wir nach und nach die einzelnen Antworten veröffentlichen. Auch in unseren anderen Formaten wie unseren Podcast, bei Instagram, Facebook oder unserer Gruppe “Laufschuhfreaks” werden wir uns dem Thema widmen. Wir laden herzlich zum Gedanken– und Ideenaustausch ein.
Teil 1 unseres Prologs findet ihr hier: “Als der Laufschuh zum Sneaker wurde”
Alle Artikel aus der Serie “Nachhaltigkeit und Laufschuhe”
Wie nachhaltig sind Laufschuhe?
Nachhaltigkeit und Laufschuhe: Eine Branche bewegt sich
Nachhaltigkeit bei Adidas
Nachhaltigkeit bei Lunge
Nachhaltigkeit bei Brooks Running
Nachhaltigkeit bei Runnertune