Die Marathonsaison geht in die heiße Phase. Sportmediziner Uli Nieper spricht im Interview über die langfristige Vorbereitung für die 42 Kilometer, Rezepte gegen Muskelkrämpfe – und den Mythos Runner’s High.
Achilles: Herr Nieper, über 100.000 deutsche Marathon-Finisher gibt es jedes Jahr. Wer sollte besser die Finger bzw. die Füße von dem Lauf lassen?
Ulrich Nieper: Viele der heutigen Marathonläufer überfordern sich, nur einem von 100 Patienten in meiner Praxis kann ich den Marathon empfehlen. Die meisten Läufer sind nach fünf oder sechs Stunden Marathon körperlich komplett kaputt. Hat man orthopädische Probleme, Herzleiden oder wiegt 100 Kilogramm mit einem hohen Fettanteil, ist ein Marathon nicht zu empfehlen.
Welche Fehler werden oft begangen?
Täglich acht Stunden Fließbandarbeit sind an sich schädlicher als einmalig ein Marathon in vier oder fünf Stunden.
Wenn man das Training also vernünftig aufbaut und sich professionell beraten lässt, dann ist medizinisch nichts gegen dagegen einzuwenden. Es gibt aber den Biertischwetten-Läufer, der nur etwa 20 Kilometer pro Woche trainiert und dann einen Marathon läuft.
Damit kann er sich körperlich hinrichten. Andere wiederum trainieren so viel, dass sie ihre Körper schon vor dem Wettkampf komplett kaputt schinden.
Langfristige und genaue Planung
Wie bereitet man sich denn richtig vor?
Einen Marathon muss man langfristig und genau planen: Der Otto-Normal-Sportler braucht etwa drei bis vier Jahre, um die Bänder, die Muskeln und den Stoffwechsel so zu trainieren, dass er einen Marathon und das Training vernünftig durchsteht. Man sollte erst 10-Kilometer-Läufe machen, im zweiten oder dritten Jahr Halbmarathon laufen und sich dann erst an einem Marathon versuchen.
Das machen aber viele nicht so. Eher wird Weihnachten der Marathon beschloßen und gleich im nächsten Jahr gelaufen. Das ist gefährlich und unsinnig.
Stichwort planen: Lohnt es sich, vor einem Marathon die Ernährung umzustellen?
Es ist immer sinnvoll, auf die Ernährung zu achten. Ich würde aber meine Ernährung nie komplett umstellten. Die meisten Sportler ernähren sich eh vernünftig. Man sollte sich bewusst und ausgewogen ernähren. Saltin-Diäten vor dem Rennen, eine extreme Form des Carboloading, oder auf den Vegan-Trend aufzuspringen, kann ich zum Beispiel nicht empfehlen.
“Falscher Ehrgeiz ist fehl am Platz”
Und worauf muss ich beim Rennen achten?
Auch der Lauf will geplant sein: Nicht zu schnell starten, sich beim ersten Marathon keine Zielzeit vornehmen und etwas Nahrung einpacken für den Moment, wenn die Energie am Ende ist.
Wann sollte ich lieber aussteigen?
Spüren Läufer die Alarmzeichen Schwindel, Übelkeit, oder Brustschmerzen sollten sie unbedingt aufhören. Bekommt man Schmerzen in Knie, Hüfte oder Rücken, dann bremsen die einen sowieso. Da ist falscher Ehrgeiz fehl am Platz!
Woher kommen Schwindel oder Übelkeit?
Diese Symptome können zum Beispiel auftreten, wenn die Kohlenhydratspeicher aufgebraucht sind, wie es nach anderthalb bis zwei Stunden meist der Fall ist.
Bei Krämpfen helfen Flüssigkeit und Kohlenhydrate
Was mache ich gegen Muskelkrämpfe?
Meist ist die Ursache eine Überbelastung, die zu Dehydration und vorzeitigem Energiemangel führt. Da hilft nur schnell etwas trinken und Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Vorbeugend sollte man beim Rennen alle halbe Stunde ein Energie-Gel essen.
Tritt ein Krampf auf, sollte man sofort die Geschwindigkeit reduzieren und versuchen langsam weiter zu laufen, wenn es geht. Meist löst er sich dann nach 45 bis 60 Sekunden von selber.
Zu welchen Verletzungen kommt es am häufigsten?
Ganz klar: Überlastungsschäden an Sehnen, Band und Kapselapparat an erster Stelle. Wie zum Beispiel Achillessehnenbeschwerden oder Ermüdungsbrüche im Fußbereich, oder das Runner´s Knee, eine Sehnenansatzentzündungen am Kniegelenk. Die Knie- und Sprunggelenke werden auf dem harten Asphalt besonders belastet.
In den letzten Jahren wurde Vorfußlaufen stark propagiert, allerdings bin ich als Orthopäde kein Fan davon, den Laufstil extrem umzustellen. Ich sehe in meiner Praxis die Resultate in Form von Achillessehnen-, Wadenproblemen und Vorfußbrüchen. Vorfußlaufen lohnt sich nur, wenn man sehr schnell laufen will, also deutlich unter einem 3.30-Minuten-Schnitt pro Kilometer.
Muss man sich vor einem Marathon vom Arzt durchchecken lassen?
Ja, auf alle Fälle sollten Läufer einen Belastungs-EKG machen, um sich auf versteckte Herzfehler oder Herzmuskelentzündungen zu testen, die man im Alltag nicht merkt. Da muss man echt aufpassen. Bei jedem Marathon fällt mindestens einer tot um.
Zu 99 Prozent kann man das ausmerzen, wenn man sich vorher korrekt durchleuchten lässt. Auch sich orthopädisch durchchecken zu lassen, lohnt immer.
“Der Marathon wird im Kopf gewonnen”
Was passiert medizinisch, wenn bei Kilometer 30 der Mann mit dem Hammer steht?
Wenn man das Rennen zu schnell angeht, kann er auch schon bei Kilometer 20 zuschlagen. Das ist der Zeitpunkt wenn die Kohlehydratspeicher komplett leer sind. Dazu ist man unterzuckert, will und kann nicht mehr.
Da hilft nur: Energie zuführen, etwas langsamer laufen und Zähne zusammenbeißen (lacht). Die Phase dauert 5 bis 20 Minuten, dann wird es meist besser. Der Marathon wird im Kopf gewonnen.
Auf den letzten Kilometern erleben Läufer angeblich oft das Runner´s High. Ein Mythos?
Ganz ehrlich: Ich hatte das noch nie. Wenn der Mann mit dem Hammer kommt, dann haut spätestens der mir die Glückshormone aus dem Kopf raus. Das wird also sehr individuell empfunden.
Ich denke, da wird als Mobilisierung der letzten Kräfte manchmal zusätzlich vermehrt Adrenalin ausgeschüttet, was den `Schub` dann ausmacht. Interessanter Weise höre ich das mit den Glückshormonen eher von Frauen.
Vielleicht gehen sie nicht so ans Limit wie Männer und laufen vernünftiger und eine gleichmäßigere Pace. Männer als Alphatierchen wollen immer gleich vorneweg laufen und verausgaben sich oft mehr.
Zur Person: Ulrich Nieper studierte Medizin an der LMU München und arbeitete als operativer Oberarzt mit Leitung der Sportorthopädie in der Schön Klinik München Harlaching fort. Herr Nieper ist seit Oktober 2014 niedergelassener Orthopäde in München Moosach und operativ in der Herzogpark Klink in München Bogenhausen tätig.
Das Interview führte David Bedürftig