Die Sportkarriere von Vanessa Low beginnt im Krankenhaus. Die damals 15-Jährige entschließt sich, Leichtathletin zu werden – und das, obwohl sie gerade beide Beine nach einem Unfall verloren hatte. Sechs Jahre später ist sie Weltrekordlerin im Weitsprung.
Achilles Running Frau Low, wie reagieren die Menschen, wenn sie erfahren, dass Sie keine Beine haben?
Vanessa Low: Die meisten sind natürlich ziemlich geschockt und wissen nicht, was sie sagen sollen. Aber wenn sie merken, dass ich damit relativ locker umgehe, zeigen sie Interesse und fragen nach.
Sie haben Ihre Beine bei einem Unfall verloren. Was ist passiert?
Was genau geschehen ist, weiß man nicht genau. Ich stand wohl am Bahnsteig und wurde im Gedränge aufs Gleis geschubst. Das ist zumindest das, was man mir erzählt hat. Ich selber kann mich nicht mehr erinnern. Ich lag ja nach dem Unfall zwei Monate im Koma und da fehlt mir doch einiges an Erinnerungen. Insgesamt bestimmt fünf Monate.
Der Unfall passierte vor sechs Jahren. Da waren sie 15. Wie kamen Sie damit zurecht, von einem Tag auf den anderen behindert zu sein?
Eigentlich ganz gut. Man denkt ja immer, es gibt diesen einen Moment: Man wacht auf und merkt sofort, alles hat sich geändert. Aber so war es nicht. Ich bin langsam aus dem Koma erwacht. Ich habe die Situation erst nach und nach realisiert und hatte somit auch die Chance, mich an alles zu gewöhnen. Meine Familie und meine Freunde waren sehr viel da für mich und haben mich direkt aufgefangen. Es gab nicht einen Tag, an dem es mir richtig schlecht ging. Klar hatte ich Momente, in denen ich mich gefragt habe, wie es mit mir weitergeht. Aber alles in allem ging es mir immer sehr gut.
“Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis ich wieder gehen konnte”
Beschäftigen Sie sich noch mit der Vergangenheit?
Nee, gar nicht, interessiert mich nicht. Ich kann es ja sowieso nicht mehr ändern. Es ist jetzt so, wie es ist. Was bringt mir das? Ich war vor dem Unfall schon sehr sportbegeistert und habe danach mein Leben einfach weitergelebt, ich habe es sogar noch intensiviert. Vorher bin ich viel gelaufen, hauptsächlich längere Strecken, 20 Kilometer, habe Handball gespielt und bin Snowboard gefahren. Jetzt konzentriere ich mich auf eine Sportart , die mit meiner Behinderung auch international gut ausführbar ist. Training macht mir immer noch Spaß, da ist es völlig egal, ob man eine Behinderung hat oder nicht.
Stimmt es, dass die Entscheidung, Leichtathletin zu werden, noch im Krankenhaus kam?
Das stimmt. Ich habe meine ersten Prothesen noch in der Klinik bekommen und am Anfang war ich etwas verzweifelt. Die Dinger sehen ja sehr technisch aus und man denkt, die funktionieren einfach. Man legt sie an und geht los. Da ist man schon enttäuscht, wenn man einsteigt und gleich fünf Mal auf die Nase fällt. Dann habe ich aber schnell Leute kennengelernt, die mit einer ähnlichen Behinderung auch Sport machen und da habe ich dann für mich entschlossen, dass Sportarten, bei denen man im Rollstuhl sitzt, keine Option für mich sind. Ich wollte unbedingt laufen.
Vorher mussten Sie das Gehen neu lernen. Wie lange hat das gedauert?
Das war am Anfang wirklich schwierig und hat sehr viel Konzentration gekostet. Es ist eben nicht so, dass die Prothesen von alleine laufen. Man kann sich das kaum vorstellen. Es ist viel Arbeit. Ich war zwei Jahre lang fünf bis sechs Mal die Woche bei der Gehschule, bis ich wirklich gut gehen konnte – und da bin ich noch mit einer Stütze gelaufen. Mittlerweile habe ich es so perfektioniert, dass ich ohne Stützen laufen kann und im Alltag kaum einer merkt, dass ich Prothesen trage. Es ist ein bisschen wie bei einem Baby, das zur Welt kommt. Das braucht auch ein paar Jahre, bis es wirklich gut laufen kann.
“In einer Trainingseinheit bin ich 35 Mal gestürzt”
Jetzt gehen Sie nicht nur, sondern nehmen an sportlichen Wettkämpfen teil. Sie laufen und springen mit speziell angefertigten Sportprothesen.
Gehen und laufen sind zwei unterschiedliche Dinge. Klar, man braucht die gleiche Kraft und dieselben Muskeln. Aber beim Laufen auf der Bahn rennt man nur geradeaus. Beim Gehen muss man noch die ganzen Schwierigkeiten bewältigen: Hinsetzen, aufstehen, auf Schrägen gehen, Treppen steigen. Ich habe schon für die 100 Meter trainiert, da bin ich im Alltag noch an Krücken gegangen. Und trotzdem war das Laufenlernen um einiges schwieriger – und vor allem tat’s mehr weh. In einer Trainingseinheit bin ich 35 Mal gestürzt – das war mein Rekord. Da holt man sich schon ein paar Schürfwunden. Wenn dir beim Gehen das Bein wegknickt, fällt man weicher, das ist dann nicht so dramatisch.
Haben Sie nie daran gezweifelt, dass Leistungssport das Richtige für Sie ist?
Natürlich habe ich manchmal gezweifelt. Ich hatte eine Zeit, in der ich mir in einem halben Jahr mehrere schwere Verletzungen zugezogen habe, weil ich blöd gefallen bin. Der Arm war gebrochen, der Ellbogen und so weiter. Da habe ich dann schon überlegt, ob ich nicht doch lieber was anderes machen soll und ob ich überhaupt konkurrenzfähig bin. Ich bin ja nur eine von zwei Sportlerinnen in der Weltspitze, die zwei Prothesen tragen, die anderen haben ja ein gesundes Bein.
Warum haben Sie trotz der Risiken und Verletzungen weitergemacht?
Selbst wenn ich nicht Gold bei Olympia gewinnen sollte ? es macht mir einfach Spaß.
“Mein Körper ist nicht mehr so belastbar”
Welche Körperteile trainieren Sie speziell, welche werden besonders beansprucht?
Grundsätzlich unterscheidet sich mein Training nicht so sehr von dem anderer Sprinter. Ich habe natürlich weniger Muskeln in den Beinen, die ich trainieren kann und muss. Dafür wird meine Rumpf- und Rückenmuskulatur viel stärker beansprucht als bei “normalen” Läufern – einfach, weil mein Schwerpunkt anders liegt und ich viel mehr das Gleichgewicht austarieren muss. Ich brauche sehr viel Kraft im Rücken, weil jeder Schritt, jeder Sprung wie ein Schlag in den Rücken ist – das muss der auch erst mal verkraften.
Wie hat sich seit dem Unfall Ihre Körper-Wahrnehmung verändert?
Ich nehme jetzt alles viel bewusster wahr, achte auf meine Ernährung und habe gelernt, auf die Signale meines Körpers zu hören. Mein Körper ist nicht mehr so belastbar, weil ganz andere Gewichte auf ganz andere Knochen treffen. Wenn ich zum Beispiel müde bin, laufe ich unsauber und falle hin.
Können Sie sich daran erinnern, wie es war mit eigenen Beinen zu laufen?
Nein, gar nicht. Wenn ich morgen aufwachen würde und zwei gesunde Beine hätte, müsste ich auch wieder neu laufen lernen.
Bei der Leichtathletik-WM in südkoreanischen Daegu ist Oscar Pistorius angetreten, als erster Sprinter mit Prothesen. Was bedeutet Pastorius für den Behindertensport?
Ich finde es schön für ihn, dass er es machen konnte, aber ich finde es auch ein wenig unfair, nichtbehinderten Läufern gegenüber. Es ist einfach grundlegend anders, mit oder ohne Sportprothesen zu laufen. Es ist nicht vergleichbar. Während die anderen zum Ende hin langsamer werden, ist Pistorius in der Lage, Riesenschritte zu machen. Das ist bei mir genauso.
Aber ist er nicht ein Vorbild, eine Inspiration für andere?
Wenn es um Medaillen und Geld geht und er anderen, die genauso hart trainiert haben, einen Platz wegnimmt, finde ich es ungerecht. Wenn er an großen kommerziellen Meetings teilnimmt, finde ich das in Ordnung, aber bei der WM oder Olympia? Das ist schwierig. Man muss auch die Perspektive der nichtbehinderten Sportler einnehmen: Da trainiert man ein Leben lang für Olympia und dann kommt jemand, der unter völlig anderen Bedingungen läuft, und lässt dich stehen. Ich finde es nicht fair.
“Ich würde nichts ändern wollen”
Was bedeutet Ihnen der Sport?
Der Sport hat mir das Leben gerettet. Ich verbringe die Hälfte meines Lebens beim Sport und begreife mich als Leistungssportlerin. Man muss sich immer bewusst machen, dass das Leben weitergeht. Ich hatte früher auch immer ein Ziel vor Augen. Das ist jetzt vielleicht noch extremer. Erst wollte ich Gehen lernen – dann konnte ich gehen. Dann hatte ich das Ziel, die 100 Meter zu laufen – das habe ich auch geschafft. Dann wollte ich unbedingt, bei der WM dabei sein – der Wunsch ist auch in Erfüllung gegangen. Das nächste große Ziel sind die Paralympics. Da wäre es schön, wenn eine Medaille dabei rumkommt.
Es ist also gar nicht so, dass Sie sich Ihre Beine wieder zurückwünschen?
Nein, eigentlich nicht. Klar, manchmal wünscht man sich das schon, weil es die Dinge vereinfacht. Vor allem am Strand oder in allen Situationen, die mit Wasser zu tun haben. Die Knie sind nun mal elektronisch und das macht es dann kompliziert. Aber grundsätzlich fühle ich mich wohl, wie mein Leben ist. Ich habe immer versucht, mich weiterzuentwickeln und mein Leben auf ein Ziel auszurichten. So habe ich mich davon abgelenkt, Depressionen zu bekommen. Mir ging?s deshalb immer gut. Ich würde nichts ändern wollen, weil ich sonst nicht da wäre, wo ich jetzt bin.
Vanessa Low, Jahrgang 1990, hat bei einem Unfall 2005 beide Beine verloren. Seitdem trägt sie Prothesen. Die Leistungssportlerin hält den Weltrekord im Weitsprung (4,93 m), den sie bei den Paralympics in Rio de Janeiro 2016 aufstellte. Sie gewann die Goldmedaille (Stand: September 2016).