4:50:08 Stunden – das ist keine Marathonzeit. Das ist der neue Weltrekord über 80 Kilometer. Aufgestellt hat ihn Ultraläufer Jim Walmsley. Der 29-jährige US-Amerikaner redet mit uns darüber, wieso das Laufen ehrlich macht und es ihn aus einer depressiven Lebensphase heraus rettete.
Ein Raunen ging durch die Laufszene, als der Ultraläufer Jim Walmsley den Weltrekord über 80 km in Folsom in der Nähe der kalifornischen Hauptstadt Sacramento zerstörte. Damit segnete einer der ältesten Weltrekorde das Zeitliche – nach 35 Jahren Bestand.
Achilles Running: Wie wichtig sind dir Rekorde generell?
Jim Walmsley: Es macht mir Spaß, mich daran zu orientieren. Sobald ich einen Rekord sehe, frage ich mich, ob ich den brechen will und kann. Davon ausgehend formuliere ich dann meine sportlichen Ziele.
AR: Wie bist du bei der Rennauswahl vorgegangen – hast du dir erst mal die kleinen Wettkämpfe ausgesucht, damit du eine Chance hast, sie zu gewinnen?
JW: Anfangs habe ich mir die eher kurzen Trailläufe angeschaut, weil ich dachte, dass dort die Schnellen unterwegs sein würden. Jedoch habe ich festgestellt, dass die richtig guten Läufer auf den längeren Strecken unterwegs sind. Bei Läufen im Stadion ist der kürzeste Lauf, der 100 m-Sprint, das größte Happening. Dagegen sind bei Trailläufen die Läufe prestigeträchtiger, je länger sie sind. Ein 160-km-Ultralauf ist ein größeres Ereignis als ein 50 km-Wettkampf. Daran habe ich mich dann orientiert.
Mehr Geduld und Selbstvertrauen
AR: Du sagst von dir selbst, dass du dazu neigst zu overpacen und zu impulsiv zu laufen. Ist das bei längeren Läufen nicht hinderlich?
JW: Ja, das stimmt. Ich arbeite daran, mehr Konsistenz in meine Wettkampfläufe zu bringen und setze mir jetzt kleinere Zwischenziele in einem Rennen. Dabei versuche ich, die positiven Erfahrungen aus meinen vergangenen Ultraläufen umzusetzen.
AR: Was zum Beispiel?
JW: Ich möchte geduldiger und selbstbewusster agieren, wenn ich merke, dass andere punktuell schneller sind als ich. Ich muss darauf vertrauen, dass ich sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder einholen kann. Gerade beim Ultrarunning gilt: „Trust the Process“, vertrau dem Prozess, denn auch im Rennen werden die anderen Menschen schneller müde, wenn sie zu schnell laufen.
AR: Du bist ein Läufer, der seine Ambitionen offensiv, fast schon großspurig, in der Öffentlichkeit formuliert. Warum tust du das?
JW: Ich habe nun mal große Ziele. Als ich beim Ultra Trail Mont-Blanc auf der Bühne mit Mitläufer*innen war, haben alle davon gesprochen, wie toll es ist, eine Runde in den Bergen laufen zu können. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das die einzige Motivation ist, am UTMB-Rennen teilzunehmen. Ich war der einzige auf der Bühne, der gesagt hat, dass ich hier bin um zu gewinnen. Warum sollte ich direkte Fragen nicht auch direkt beantworten? Ich habe nicht die Absicht, jemanden mit meiner Direktheit vor den Kopf zu stoßen, aber ich beantworte Fragen gerne möglichst ehrlich.
Mantra-Schimpfen beim Laufen
AR: Hast du ein Mantra, mit dem du dich motivierst, wenn du beim Ultralauf müde wirst?
JW: Meistens fange ich mit Trash Talk an, z.B. „Du bist so ein Schwächling“, „Stell dich nicht so an“, „Nur noch ein kleines bisschen weiter“ und packe vielleicht noch das eine oder andere Schimpfwort aus. Das Schöne beim Trail- und Ultralauf ist ja, dass man meist alleine ist und da kann man sich schön selbst beschimpfen, ohne andere Menschen zu verstören (lacht). Das geht natürlich nicht, wenn dich bei Straßenrennen Kameras filmen. Da weiß ich mich zu benehmen.
AR: Viele Profis hatten früher die Befürchtung, dass ihre Trainingsgeheimnisse bekannt werden. Ich sehe auf Strava, dass du deine Läufe dort loggst. Postest du auf Strava wirklich alle deine Läufe? Hast du nicht die Befürchtung, dass andere deine Trainingsgeheimnisse dort sehen?
JW: Ja, alle meine Läufe befinden sich auf Strava. Manchmal kommt es vor, dass ich einen Lauf erst später poste. Wenn ich beispielsweise auf Reisen bin, kann das vorkommen, weil ich sonst jede Menge Anfragen von Läufer*innen bekomme, ob ich nicht mit ihnen abhängen oder laufen gehen möchte.
Betrunken am Steuer
AR: Wie bist du überhaupt zum Laufen gekommen?
JW: Aufgewachsen bin ich in Phoenix, Arizona im Südwesten der USA. Als junger Teenager habe ich in der Highschool mit dem Laufen angefangen. In meinem letzten Schuljahr dort wurde ich als Läufer des Jahres ausgezeichnet. An der Universität war ich im Cross-Country Team und bin die klassischen Mitteldistanzen 5.000 Meter und 10.000 Meter gelaufen.
AR: Wie ging es danach für dich beruflich und sportlich weiter?
JW: Nach meinem Studium an der Airforce Academy habe ich bei der US-Luftwaffe angefangen zu arbeiten. Ich wurde dafür in den nord-westlichen Bundesstaat Montana versetzt, eine Gegend mit geringer Bevölkerungsdichte und extremen Wetterschwankungen. Bei der Arbeit musste ich zum Teil für 24-Stunden-Schichten im Luftwaffenstützpunkt abhängen – unter Tage! Das hat überhaupt keinen Spaß gemacht.
AW: Kein Wunder.
JW: Ja, und weil ich nicht besonders motiviert war, hatte ich Schwierigkeiten, ein gutes soziales Umfeld an Freunden aufzubauen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte ich auch noch Probleme mit dem Gesetz – wegen Trunkenheit am Steuer.
AW: Oh je.
JR: Man kann sagen, dass ich sowohl beruflich als auch persönlich ein Wrack war.
Jedes Mal, wenn ich Laufen gegangen bin, war mein Kopf frei von Problemen.
AR: Klingt nach einer schwierigen Zeit. Welche Rolle hatte das Laufen für dich?
JW: Das Laufen hat mir mental und psychisch unheimlich geholfen. Jedes Mal, wenn ich Laufen gegangen bin, war mein Kopf frei von Problemen. Es hat mich zum Nachdenken gebracht.
Mir wurde bewusst, dass die Arbeit es mir nicht ermöglichen würde, meinem Sport so nachzugehen, wie ich es wollte. Die Kernfrage für mich war also: Sollte ich mich dem Druck der Gesellschaft hingeben und das machen, was von mir erwartet wurde: arbeiten, sich anpassen und dem Schicksal fügen?
Oder sollte ich an mich denken und das machen, was mir am besten tat? Ich habe mich für letzteres entschieden und meine Arbeit beim Militär beendet.
Die Gefahr, zu schnell zu sein
AR: Was ist schwieriger zu trainieren beim Ultrarunning: Geschwindigkeit oder das Durchhaltevermögen?
JW: Ich denke, dass es wichtiger ist, Konditionsstärke zu trainieren. Der Ultraläufer Sage Canaday hat das gut formuliert, als er sagte, dass die Fähigkeit schnell laufen zu können, gefährlich sei. Das kann ich gut nachvollziehen, denn es ist mir auch passiert, dass ich meine Fähigkeiten überschätzt habe, das Rennen zu schnell angegangen bin und gegen Ende eines Rennens mein ganzes Pulver verschossen hatte.
AR: Wie schaffst du es, verletzungsfrei zu bleiben?
JW: Es ist schon lange her, dass ich eine Verletzung hatte. Womit ich am meiste kämpfe, sind schmerzende Achillessehnen. Dabei mache ich nicht viel an stabilisierenden Übungen. Was ich regelmäßig mache, sind exzentrische Wadenheber. Ich mache kein Strength Training, lass mich nicht mal massieren. Mir ist es aber wichtig, immer aktiv zu bleiben, auch in der trainingsfreien Zeit. Aber vielleicht wird sich das alles ändern, wenn ich älter werde.
AR: Wie ernährst du dich?
JW: Ich bin Vegetarier – nicht so sehr aus gesundheitlichen oder leistungsbezogenen Aspekten, sondern aus ethischer Sicht. Mein Kryptonit sind Süßigkeiten und Soft Drinks, weswegen ich versuche sie zu vermeiden.
Nächster Halt: Marathon
AR: Du willst an den olympischen US-Trials für den Marathon teilnehmen. Warum?
JW: Es ist mehr so eine „Warum nicht?“-Einstellung und mein 80 km-Rekordlauf war in dieser Hinsicht eine gute Erfahrung, um diesen Traum weiter zu verfolgen. Für das Marathontraining werde ich mir von Dezember 2019 bis März 2020 Zeit nehmen. Das Ziel ist, auf den Top-3-Plätzen zu landen. Gerüchte besagen, dass man unter 2:11:30 Stunden laufen muss, um sich zu qualifizieren.
AR: Wirst du dafür einen Trainer nehmen?
Das habe ich noch nicht entschieden. Es müsste jemand sein, der wie ich experimentierfreudig ist. Ich spiele mit dem Gedanken, relativ hohe Kilometerleistungen abzuspulen von bis zu 290 km in einer Trainingswoche. Nicht unähnlich, wie es manche japanischen Läufer*innen auch machen. Bisher bin ich in der Regel um die 200 km in einer Trainingswoche gelaufen, es wäre also auch Neuland für mich. Außerdem halte ich das harte Asphalttraining für die relativ kurze Marathonstrecke für eine ideale Vorbereitung für den Comrades Marathon 2020 in Südafrika, an dem ich teilnehmen möchte.
Bricht Eliud die Zwei-Stunden-Marke?
AR: Welche Rolle hat das Equipment bei deinem 80-km-Weltrekord gespielt?
JW: Ich hatte das Modell „Project Carbon X Laufschuh“ von meinem Sponsor HOKA ONE ONE an – und der ist super. Es macht Spaß, darin längere schnelle Läufe zu machen. Es ist ein recht aggressiver Schuh und ist vor allem sehr geeignet für den Marathon. Für Ultraläufe wünsche ich mir persönlich noch mehr Dämpfung. Es kann aber auch sein, dass ich in meiner Vorbereitung zum Weltrekordversuch zu wenig auf Asphalt gelaufen bin, weswegen mir die Schuhdämpfung ein wenig gefehlt hat.
AR: Glaubst du, dass Eliud Kipchoge die 2-Stunden-Grenze beim Marathon brechen kann?
JW: Kipchoge hat so eine unfassbare mentale Stärke, die er allen anderen voraus hat. In einem normalen Wettkampf denke ich nicht, dass er es derzeit schafft – aber er ist nicht weit davon entfernt. Er trifft die Zwischenzeiten richtig gut und die Nahrungsaufnahme spielt da auch eine große Rolle.
Zur Person: Jim Walmsley, Jahrgang 1990, ist ein US-amerikanischer Ultra-Trailläufer. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurde er als Ultraläufer des Jahres ausgezeichnet. Er hält die Streckenrekorde der Western States 100, Lake Sonoma 50, Bandera 100k, Tarawera Ultramarathon und JFK 50 (Stand Juni 2019).