Viele Marathonläufer*innen gehen verletzt und mit Schmerzen an den Start. Und selbst wenn eigentlich gar nichts so doll weh tut, wird noch schnell eine Schmerztablette eingeworfen. Gesundheitliche Risiken? Werden ausgeschaltet. Aber warum eigentlich?
„Es darf einfach nichts dazwischenkommen. Ich habe so lange darauf hingearbeitet. Es MUSS klappen.“
Wer schon mal einen Marathon gelaufen ist oder sich gerade auf einen vorbereitet, wird diesen Gedanken vermutlich kennen. Man meldet sich – meist ein Jahr vorher – zum Marathon an, und dann beginnt die Vorbereitungszeit. Dass am Tag der Tage etwas Unvorhergesehenes passiert? Will man sich gar nicht vorstellen!
Die Vernunft? Ist plötzlich weg …
Und wenn doch? Dann verabschiedet sich klammheimlich die Vernunft, und die gesundheitlichen Probleme plus deren Konsequenzen werden verdrängt. Das Knie tut so weh? Mit Schmerzmitteln wird es schon gehen. Eigentlich bin ich dick erkältet? Diesen einen Lauf halte ich jetzt trotzdem noch durch. Nur den einen. Ausruhen kann ich mich danach auch noch.
Warum ist das so? Was passiert mit den eigentlich so gesundheitsbewussten Läufer*innen? „Marathons erzeugen ganz automatisch Druck“, erklärt Sportpsychologin Frauke Wilhelm. „So ein Lauf lässt sich nicht nächste Woche nachholen. Das Ereignis ist selten, da will man sich nicht stoppen lassen.“
Hinzu käme, dass viele Läufer*innen sich selbst und auch ihrer Umgebung etwas beweisen wollen. „Die wenigsten laufen heimlich einen Marathon“, sagt Frauke Wilhelm. „Das Umfeld weiß Bescheid und da wollen viele auch einfach gut dastehen.“
„Viele laufen sich ins Delirium“
Noch mehr Druck kommt häufig auch durch die sozialen Netzwerke zustande, sagt Annika Golldack, ehemalige Spitzensprinterin und Laufcoach. „Viele lassen auf Instagram oder Facebook andere an ihrem Training teilhaben.“ Eine Zerrung in der Wade? Das klingt dann zu banal, um nicht an den Start zu gehen. Zu groß ist die Angst, das könne aussehen wie eine Niederlage.
Annika Golldack bereitet viele Läufer*innen auf Marathons vor. „Etliche trainieren so intensiv, dass sie sich quasi ins Delirium laufen“, sagt sie. „Das geht in Richtung unbewusstes Suchtverhalten. Betroffene lassen sich von Verletzungen und Schmerzen dann nicht mehr stoppen. Sie laufen durch ihren eigenen Tunnel.“
Und wie komme ich da wieder raus? „Schwierig“, sagt Annika Golldack. „Am ehesten kann ich die Reißleine bei Läuferinnen und Läufern ziehen, die sich zum ersten Mal auf einen Marathon vorbereiten“. Häufig unmöglich sei es hingegen bei halben Profis, die sich schon angewöhnt hätten, Signale ihres Körpers zu überhören.
Wer mit Schmerzen läuft, muss es lassen
Signale überhören und trotz Schmerzen laufen ist die eine Sache, die andere: den Schmerz mit Medikamenten überdecken. Keine Seltenheit, sondern fast an der Tagesordnung bei Marathonläufer*innen. Eine Umfrage von 4.000 Marathonläufer*innen 2010 in Bonn ergab: Mehr als die Hälfte der Freizeitläufer*innen schluckt vor einem Marathonlauf Schmerzmittel.
Paul Nilges, Psychologe und Schmerz-Experte der Deutschen Schmerzgesellschaft, warnt ausdrücklich davor: „Tablettenschlucken ist ein No-Go. Läuferinnen und Läufer haben nichts davon.“ Seine Regel ist denkbar einfach: Wer Schmerzen hat, die das Laufen beeinträchtigen und die auch mit der Bewegung nicht verschwinden, muss es lassen und zum Arzt gehen.
Doch nicht nur Schmerzen werden von Marathonläufer*innen gern mit einer Pille bekämpft, sondern auch die Angst vor dem Rennen. „Viele nehmen vor dem Start Schmerzmittel ein, um etwaige auftauchende Schmerzen zu verhindern“, sagt Nilges.
Bestzeit mit 30, Hüft-OP mit 40
Völliger Quatsch und richtig gefährlich, sagt der Psychologe, der selbst erfahrener Läufer ist.
„Schmerzmittel beim Marathon können zu ernsthaften Komplikationen wie Blutungen im Magen-Darm-Trakt und Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems führen und enden nicht selten in der Notaufnahme.“
Paul Nilges, Psychologie
Natürlich könnten während eines Marathonlaufs Schmerzen entstehen. Das seien aber in der Regel diffuse Schmerzen im ganzen Körper. „Die Muskulatur ermüdet und es tritt ein Erschöpfungszustand tritt ein. Dagegen hilft sowieso kein Schmerzmittel. Wer das glaubt, sitzt einer Illusion auf. Placebo Forte nenne ich das“, sagt Nilges.
Laut dem Schmerz-Experten sei es viel ratsamer, die Signale des Körpers wahrzunehmen und ihm auch ein Stück weit zu vertrauen. „Laufen hat einen Endorphin-Effekt. Es entsteht eine körpereigene Schmerzdämpfung.“ Doch darauf verlassen sich die wenigsten.
Vor allem die unter 30-Jährigen hätten einen Hang zu Schmerzmitteln, sagt Nilges. „Das ist die Sturm-und-Drang-Zeit. Sie sind übermotiviert und setzen sich zu hohe Ziele.“ Klar könnte man sich in dem Alter wunderbar punktuell überfordern und super Leistungen erreichen, aber extreme Fälle landen laut Nilges dann gerne auch mal mit 40 im Krankenhaus zur Hüft-OP.
Weg vom Once-in-a-Lifetime-Gedanken
Also was tun gegen übermächtigen Ehrgeiz und nachlassende Vernunft? „Sich realistische Ziele setzen“, sagt Sportpsychologin Frauke Wilhelm. Manchmal sei es sinnvoll, wegzukommen von dem Once-in-a-Lifetime-Gedanken beim Marathon.
Wichtiger als das für viele einmalige Erlebnis sei es, sich klar zu machen, warum man eigentlich läuft. Weil es mir guttut? Weil ich etwas für meine Gesundheit tue? Weil es mir Spaß macht? „Wer solche Ziele hat, bleibt auch länger am Ball, als wenn man wirklich nur auf den einen Wettkampf hin trainiert.“
Auch Laufcoach Annika Golldack empfiehlt, sich selbst den Druck zu nehmen. „Niemand muss sich der Welt beweisen und man kann auch nicht jeden Tag hundert Prozent geben“, sagt sie.
Ihr Tipp: Raus aus der Stresswelt. Und wenn das bedeutet, den heiß ersehnten Marathon nicht mitlaufen zu können? Die Antwort von Psychologe Nilges ist eindeutig: „Das ist bitter. Aber eben nicht zu ändern.“ Darin bestehe die Kunst: Genau das zu akzeptieren. Marathons gibt es viele, einen zweiten Körper eben nicht.