Crawling wird als neue Trendsportart gepriesen. Mit Baby-Krabbeln soll man mehr – der etwa 650 – Muskeln im Körper trainieren als mit jedem anderen Sport. Was ist da dran? Ein Selbstversuch.
Verdammt, hoffentlich will der nicht mit mir rausgehen. Den Kopf zehn Zentimeter über dem Redaktionsfußboden krabble ich unbeholfen auf Händen und Füßen durchs Zimmer, atme Staub ein. Peinlichkeitsfaktor 100.
Das bisschen Krabbeln
“Bauchmuskeln anspannen, regelmäßig Atmen”, kommandiert Krabbel-Coach Johannes Randolf. Ich spann ja schon. Was wohl die Kolleg*innen denken? Hauptsache: Ich muss gleich nicht an meinem Fußballplatz vorbeikriechen!
Der Frühling ist da. Mal mehr, mal weniger. Aber in jedem Fall höchste Zeit für uns Freizeit-Sportler*innen, den Körper wieder auf Vordermann zu bringen. Noch schneller als Nelken und Narzissen schießen jedes Frühjahr Fitness-Trends aus dem Boden. “Crawling”, Englisch für Krabbeln, kreucht und fleucht gerade aus Australien und den USA nach Deutschland und wird von Fachzeitschriften als beste Rumpfübung aller Zeiten gepriesen.
Natürlich schwören auch die Reichen und Schönen längst auf die Krabbelei. Und so viel ist klar: Was gut für Gisele Bündchen ist, muss auch gut für mich sein. Höchste Zeit für einen Selbstversuch.
In jedem Haushalt leben 100 Arten von Krabbeltieren: Spinnen, Milben, Schaben – und jetzt also auch ich. Crawling soll meine Oberkörpermuskulatur kräftigen, meine Wirbelsäule mobilisieren und korrekt aufrichten und mir so zu einer besseren Haltung verhelfen. Kann ja nicht so schwer sein, das bisschen Krabbeln. Kinderleicht quasi, wenn schon Babys davon nicht genug bekommen.
Also runter in die Liegestützposition, endlich wieder Kind sein. Das rechte Bein beugen und nach vorne neben den ebenfalls gebeugten rechten Arm ziehen. Die Brustwirbelsäule nach oben und die Lendenwirbelsäule nach unten drücken, Körperspannung beibehalten. Dann linkes Bein nach vorne neben den linken Arm ziehen und die rechte Hand weiter nach vorne schieben. Huch, was passiert? Auf einmal schwitze ich. Weiterkrabbeln. Die Muskeln zittern.
“Nicht so einfach, was?”, grinst Trainer Randolf. Ich grinse nicht. Erstmal Luft holen. Randolf ist der bislang einzige Krabbel-Guru im deutschsprachigen Raum, Tanzlehrer an der Universität Linz und Physiotherapeut, klein und geschmeidig. Typ österreichische Frohnatur, aber auf die sympathische Art. Er leitet Krabbel-Gruppen in Linz. In Deutschland sucht man solche Kurse noch vergeblich.
Zu viel Rumsitzen
“Wir gebrauchen heutzutage die Oberkörpermuskeln im Alltag nicht mehr”, sagt Randolf. Zu viel Büroarbeit, zu viel träges Herumhocken vor dem Computer. “Der Super-Gau, denn für die Stabilität der Wirbelsäule benötigen wir ein gleichmäßiges Training des Ober- und Unterkörpers.”
Video: Krabbel-Workout
Randolf suchte nach physiotherapeutischen Ansätzen “mit Fun-Faktor” und entwickelte sein eigenes Krabbel-Programm mit vielen verschiedenen Übungen. Auf allen Vieren trainiere man alle Muskelketten und -verbindungen auf einmal und vor allem: dreidimensional. Das stimuliere die Wirbelsäule. Von zweidimensionalen Fitnessgerät-Trainings hält der Österreicher gar nichts. Lieber jeden zweiten Tag (um die Handgelenke nicht zu überbelasten) 60 Minuten krabbeln, inklusive Aufwärmen und Knieschonern.
Krabbel, kriech, robb. Nach ein paar Crawling-Übungen bahnt sich bereits der Muskelkater meines unterbenutzten Oberköpers an. Aber die Wirbelsäule fühlt sich überraschend entspannt an. Das ging fix. Wo mich eben noch das Schreibtischstuhlziehen im unteren Lendenbereich plagte, ist die Bürokrankheit auf einmal weg.
“Weil wir uns im Alltag zu wenig dreidimensional betätigen, werden zu wenig Nervenimpulse ausgesandt und die Muskulatur um die Wirbelsäule wird geschwächt”, erklärt der Krabbel-Coach.
Respekt vor Babys
Crawling soll nicht nur die Muskulatur und Wirbelsäule stärken, sondern stimuliert angeblich auch das Gehirn. Werden die Reichen und Schönen jetzt etwa auch noch schlau? Krabbeln vernetzt bei Babys die beiden Gehirnhälften miteinander, das ist bekannt. Auch, dass wir durch unseren simplen Bewegungsalltag bestimmte koordinative Fähigkeiten verlieren.
Koordinationstraining kann da Abhilfe schaffen und neue Verschaltungen im Gehirn erzeugen. Ein Zusammenhang von Krabbeln und kognitiver Entwicklung wurde jedoch noch nicht erforscht. “Aber auch beim Krabbeln befinde ich mich in einer schwierigen Koordinationsschleife und im ständigen Wechsel zwischen rechts und links; und habe so eine völlig neue Erlebnisebene”, sagt Randolf.
Schwierige Koordinationsschleife? Dass ich nicht lache, Krabbeln ist doch keine Life-Kinetik. Ein bisschen Arm vor Bein werde ich ja wohl noch schaffen, bin doch Ballsportler. Also nächste Übung. Nochmal Fokus auf die Wirbelsäulenabschnitte, Fokus auf die Atmung, Fokus auf die Körperspannung.
Aber verflixt, was ist das? Bleib hinten, Bein! Mit meinem linken Arm schiebt sich auch mein linkes Bein wie von selbst nach vorne, dabei sollte ich mich doch versetzt bewegen. Zu viel Informationsverarbeitung – und vielleicht doch eine neue, nicht ganz so simple Erlebnisebene.
“Jeder macht anfangs diesen Fehler”, beschwichtigt Randolf. “Das Gehirn ist darauf programmiert.” Mein Programm lautet erst mal weiterkriechen, ächz. Was bringt mir eine entspannte Wirbelsäule, wenn die Arme glühen?
Nach 20 Minuten schnappe ich nach Luft und fange an, Respekt vor Babys zu bekommen. Die Kolleg*innen belächeln unsere kleine Krabbelgruppe schon mitleidig. Immerhin nicht die Fußballmannschaft.
Zur Person: Johannes Randolf, Jahrgang 1967, lehrt Tanz an der Anton Bruckner-Universität Linz und betreibt eine Praxis für Physiotherapie. Sein Buch “Krabble! Training für Körper und Gehirn mit den natürlichen Bewegungen der Babys” ist der erste deutsche Crawling-Ratgeber und erklärt verschiedene Krabbel-Übungen.