Laufsachen an – und los joggen. So einfach ist das – für Männer. Für Frauen schwingt immer Gefahr mit. Sexuelle Belästigung hat fast jede schon mal erlebt. Auch unserer Autorin Sandra Arens ist das passiert.
Der Tag, an dem mir ein fremder Mann auf den Hintern haute, war ein Sonntag. Ich joggte durch den Park, meine Hose war grün, mein T-Shirt rosa. Ich kann mich an alles erinnern. An den Weg, die Uhrzeit – an diesen Mann und seine Altmänner-Mütze.
Und dabei ist dieses Erlebnis schon 17 Jahre her. Den Mann habe ich noch heute vor Augen. Er ging spazieren wie alte Männer eben spazieren gehen. Hände auf dem Rücken verschränkt, nach vorne gebeugt. Vielleicht war er 65 Jahre alt – ich war 20.
Ich dachte mir überhaupt nichts dabei, an ihm vorbei zu joggen. Es war hell im Park, Mittagszeit. Der Weg war leer und breit, wir mussten uns nicht mal sehr nahekommen. Und doch schaffte es dieser Kerl, mir richtig einen mitzugeben.
„Warum habe ich ihn nicht wenigstens angebrüllt?“ – Belästigung beim Joggen
Die Situation war völlig absurd. Angst hatte ich nicht, fühlte mich nicht bedroht. Und dennoch war es ein ekelhaftes Erlebnis. Was aber das Schlimmste für mich war: Ich war völlig unfähig, darauf zu reagieren. Sonst nicht auf dem Mund gefallen, bekam ich jetzt keinen Laut heraus. Dieser Mann allerdings schon. Während ich still und entsetzt so schnell wie möglich weiterlief, freute er sich diebisch.
Er lachte laut – er lachte mich aus. Ich glaube, es ging ihm nicht um etwas Sexuelles. Er freute sich schlicht darüber, wie er eine junge Frau einfach mal komplett erniedrigt hat. Bis heute ärgere ich mich – und zwar unglücklicherweise über mich selbst.
Warum habe ich nicht reagiert? Ihn wenigstens so richtig angebrüllt? Angst hatte ich schließlich keine. Warum habe ich ihm das Gefühl gegeben, dass das schon in Ordnung geht?
„Diese Fragen stellen sich fast alle Frauen, die ähnliches erlebt haben“, sagt Katja Grieger, Psychologin und Leiterin des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff). „Viele suchen sogar den Fehler bei sich selbst.“
Und ja, auch ich fühlte mich nach dieser Begegnung schuldig. Egal mit wem ich darüber sprach, jeder schien genau zu wissen, wie ich hätte reagieren sollen. „Also ich wäre ja stehengeblieben und hätte den zur Sau gemacht“, sagte die eine. „Wie konntest Du Dir das einfach gefallen lassen?“, die andere.
„Solche Aussagen sind zwar in den meisten Fällen gut gemeint“, erklärt Psychologin Katja Grieger. „Allerdings rücken sie dabei den Täter aus dem Fokus. Die Betroffene bekommt das Gefühl, sie hätte falsch gehandelt, falsch reagiert.
Dabei ist immer der Täter schuld. Es ist immer die Schuld dieses einen Mannes.“
Katja Grieger, Psychologin
„Die eine richtige Reaktion gibt es nicht“
Aber wie hätte ich nun reagieren sollen? Auch 17 Jahre später weiß ich es nicht. „Weil es die eine richtige Reaktion gar nicht gibt“, sagt Katja Grieger.
Ich war also hilflos ausgeliefert und wäre es heute immer wieder?
„Nein“, sagt Selbstverteidigungstrainerin Sunny Graff. Sie wurde 1979 Weltmeisterin in Taekwondo und engagiert sich stark zum Thema Gewaltprävention für Mädchen und Frauen. Sie sagt:
„Es gibt keinen Opfertyp und deshalb sollten wir uns auch nicht wie Opfer benehmen. Genau wie die Männer einen Plan im Kopf haben, wenn sie Frauen oder Mädchen belästigen, brauchen auch wir einen. Wir sollten genau wissen, wie wir uns in solchen Situationen wehren können.“
Sunny Graff, Selbstverteidigungstrainerin
Hätte ich damals also tatsächlich stehen bleiben sollen? Die Konfrontation suchen? Ist das nicht gefährlicher, als einfach wegzurennen? „Wenn du dich nach Wegrennen gefühlt hast, dann war es auch das richtige“, sagt Sunny Graff.
Dennoch ist sie sehr dafür, dass Frauen sich wehren sollten. „Männer wollen mit solchen Übergriffen in der Regel testen, wie weit sie gehen können“, sagt sie. „Sie suchen sich dafür meistens Frauen und Mädchen aus, von denen sie keinen Widerstand erwarten.
Joggerinnen eignen sich wunderbar dafür. Wenn wir dann aber laut schreien und uns auch körperlich verteidigen, können wir sie dermaßen überraschen, dass sie zukünftig vielleicht mehr Hemmungen haben.“
Sich körperlich wehren – ist das erlaubt?
Mich körperlich wehren? Hätte ich das denn gedurft? Immerhin fühlte ich mich nicht wirklich bedroht – die Situation war in Sekundenschnelle vorbei. „Es gibt das so genannte Notwehrrecht“, erklärt Dr. Jonas Hennig aus Hamburg, Fachanwalt für Strafrecht mit Spezialisierung auf Sexualstrafrecht. „Es besagt allerdings, dass man sich nur genau in dem Moment des Angriffs wehren darf. Ist die sexuelle Belästigung bereits beendet, gilt das Notwehrrecht nicht mehr.“
Ich hätte damals also sofort reagieren müssen. Niemals hätte ich das gekonnt – ich war viel zu perplex. „Und genau an diesem Punkt müssen wir Mädchen und Frauen stärken“, sagt Sunny Graff. „Wenn sie wissen, wie man sich in solchen Situationen schnell und gezielt wehren kann, kommen die Bewegungen auch zum richtigen Moment.“
Und wie soll ich mich bewegen? Wie wehre ich mich überhaupt? Auch heute noch fühle ich mich damit überfordert – und erfülle vermutlich alle weiblichen Klischees. Ich habe noch nie jemanden geschlagen, selbst Schreien in der Öffentlichkeit würde mich eine wahnsinnige Überwindung kosten.
„All das lernen Frauen und Mädchen in einem Selbstverteidigungskurs“, sagt Sunny Graff. Zu den wichtigsten Regeln zählen für sie: einen starken, selbstbewussten Augenkontakt mit der Person zu halten, die einen bedrängt. Mit klarer, lauter Stimme zu sprechen und deutlich auszusprechen, was man will – zum Beispiel „Fass mich nicht an!“ oder „Verschwinde!“. So hätte man auch die Chance, dass andere auf den Täter aufmerksam werden.
Wer grapscht, kann im Gefängnis landen
Aber was passiert überhaupt mit einem Mann, der sexuell übergriffig wurde? „Durch die Reform des Sexualstrafrechts gibt es seit 2016 einen neuen Tatbestand, die sexuelle Belästigung“, erklärt Jonas Hennig. Im neuen Paragraphen 184i Strafgesetzbuch ist festgeschrieben:
„Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.“
§ 184i Strafgesetzbuch
„Hier geht es umgangssprachlich um die Grapschfälle“, erklärt Jonas Hennig. Vor der Reform des Sexualstrafrechts hatten diese Grapscher in der Regel rein gar nichts zu befürchten – heute drohen empfindliche Strafen.
Mein eigenes Erlebnis, der „Klaps“ auf den Po, ist laut Jonas Hennig sogar das Beispiel in der Gesetzesbegründung für den Paragraphen 184i. Hätte es diesen Paragraphen vor 17 Jahren gegeben, hätte sich der Mann aus dem Park also strafbar gemacht. Gedroht hätte eine Geldstrafe – sogar eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren wäre unter Umständen drin gewesen.
Doch hätte man ihn überhaupt zur Rechenschaft ziehen können? „Unwahrscheinlich“, sagt Jonas Hennig. „Sie hätten Strafanzeige gegen Unbekannt stellen können. Aber ohne genaue Täterbeschreibung verläuft sowas in der Regel im Sand.“
Es sei denn, ich hätte den Täter festhalten können – oder ein anderer wäre mir zu Hilfe gekommen. Diese Art der Freiheitsberaubung ist nämlich rechtlich nach dem sogenannten Festnahmerecht erlaubt! „Es steht jedem Bürger zu, eine Person festzunehmen, wenn sie eine Straftat begeht“, sagt Jonas Hennig.
Ich selbst hätte das zwar niemals geschafft und auch für zu gefährlich gehalten. Aber andere hätten mir durchaus zur Hilfe eilen können und den Mann tatsächlich straffrei um seine Freiheit bringen dürfen – natürlich nur bis die Polizei eingetroffen wäre.
Hätte der Mann dann eine Strafe bekommen? Jonas Hennig: „Eher nicht. Er hätte zum Vorwurf schweigen können, und eine solche Tat lässt sich schwer nachweisen.“
Einige Männer fühlen sich von joggenden Frauen provoziert
Vielleicht ist es das, was einigen Männern so viel Mut gibt – sie wissen, dass sie in den seltensten Fällen dafür zur Verantwortung gezogen werden können. Und das erklärt sicher auch die hohen Zahlen sexueller Belästigung. Um zu erfahren, wie häufig Frauen beim Joggen bedrängt werden, muss man nur zwei Wörtern googlen: „Sexuelle Belästigung“ und „Joggen“. Die Treffer explodieren.
Warum ist das so? Warum werden Frauen beim Joggen scheinbar als Freiwild für blödes Hinterherrufen, unpassende Sprüche und sogar handfestes Grapschen angesehen?
„Joggen hat etwas mit Bewegungsfreiheit zu tun“, sagt Psychologin Katja Grieger. „Frauen nehmen sich den Raum dafür, sie wollen sich nicht im Fitnessstudio verstecken. Dann tragen sie auch noch leichte Sportkleidung, davon fühlen sich einige Männer scheinbar provoziert. Diese Art von Männern sehen nicht ein, Frauen diese Freiheit zu lassen. Sie wollen ihre Macht demonstrieren und glauben auch, das Recht dazu zu haben.“
Einfach loslaufen? Für Frauen häufig undenkbar!
Ich selbst denke nicht mehr oft an mein eigenes Erlebnis. Aber dennoch hatte es Auswirkungen auf mein Leben. Ich gehe weiterhin joggen; aber jeder Mann*, an dem ich vorbeilaufe, gerät automatisch unter Generalverdacht. Das passiert nicht bewusst. Ich merke es aber an meinem Verhalten. Ich halte einen großen Abstand, und bin ich mit ihm auf einer Höhe, gebe ich ein bisschen mehr Gas, um schnell vorbeizukommen. Laufen im Dunkeln ist tabu, auf einsamen Wegen auch.
„Und das ist das Traurige daran“, sagt Katja Grieger. „Die Hälfte unserer Gesellschaft, nämlich die Frauen, läuft mit einem ganz anderen Gefühl los als die andere Hälfte. Frauen machen sich viel mehr Gedanken, entwickeln bewusst oder unbewusst Vermeidungsstrategien, überlegen sich, wo sie sicher laufen können und wo nicht.
Die meisten Männer hingegen ziehen sich ihre Sportsachen an und los geht’s.“
Sunny Graff kämpft dafür, dass Frauen und Mädchen dieses Vermeidungsverhalten nicht mehr nötig haben. Für sie muss man sexuelle Belästigungen, wie ich sie beim Joggen erlebt habe, in einem viel größeren Zusammenhang sehen. „Solange Frauen immer noch nicht wirklich gleichberechtigt sind, dieselben Gehälter und Positionen wie Männer erhalten, gibt es immer auch Männer, die glauben, ihre vermeintliche Machtposition ausleben zu dürfen.“
Und bis sich hier Grundsätzliches ändert, habe ich zumindest jetzt meinen eigenen Plan: Ich mache endlich, endlich einen Selbstverteidigungskurs.
Sexuelle Belästigung beim Joggen – Tipps im Podcast
Mehr zum Thema sexuelle Belästigung beim Laufen gibt es im ACHILLES RUNNING Podcast.
Anmerkung der Redaktion: Um die Antworten der Interviewpartner*innen nicht zu verfälschen, werden die Zitate nicht gegendert.