Roland Wegner hat das Rückwärtslaufen vorangetrieben wie kein Zweiter. Der Weltrekordhalter über 100 Meter rückwärts erklärt, warum Retro-Runing die Gelenke schont, Ängste abbaut und wie man blind durch die Stadt rennt.
Achilles Running:* Herr Wegner, Rückwärtslaufen – das klingt für viele wie Hula-Hoop und Dosenwerfen. Alles nur ein großer Jux?
Roland Wegner: Na ja, Hula-Hoop wird schon auch ernst genommen. Als ich dieses Jahr bei “Wetten, dass?” war, wurde die Artistin, die einen Lkw-Reifen um die Hüfte geschwungen hat, Wettkönigin (lacht).
Klar, Rückwärtslaufen ist auch Unterhaltungssport, deswegen wurde ich ja von Thomas Gottschalk eingeladen, aber ich persönlich nehme es ernst, weil es vor allem gesundheitliche Auswirkungen hat.
Zum Beispiel?
Rückwärtslaufen hat große Vorteile. Viele können sich das nicht vorstellen, die denken, man läuft einfach nur andersherum. Das ist aber eine komplett andere Belastung. Man trainiert zum Beispiel stärker die Hüfte und damit auch die Wirbelsäulenmuskulatur.
Das müssen Sie erklären.
Die Schnelligkeit beim Rückwärtslaufen kommt über die Hüfte. Deswegen sieht die Bewegung auch ein bisschen komisch aus, weil die Beine nach außen rotieren. Man kräftigt also die Hüfte, wenn man rückwärts läuft, und das stärkt die Wirbelsäule.
Wer eine schwache Hüfte hat, hat auch meist einen schwachen Rücken. Gerade für Menschen wie mich, die sonst viel im Büro arbeiten, ist das Rückwärtslaufen gut, weil es die blockierten, verschobenen Beckenschaufeln wieder frei legt.
Viele können ja beim Stehen das Bein kaum nach hinten strecken, weil die Hüft- und Beckenmuskeln durchs ständige Sitzen so stark verkürzt sind.
Was ist mit den Knien?
Die werden entlastet. Da die Schrittlänge beim Retro-Running bis zu 30 Prozent kürzer ist, sind die Aufprallkräfte nicht so groß. Das heißt, die Kräfte werden eher von der Waden- oder Oberschenkelmuskulatur abgefangen als vom Knie oder den Gelenken. Auch der Winkel des Knies beim Bodenkontakt ist anders und schonender als beim Vorwärtslaufen.
Und welche Körperpartien werden besonders beansprucht?
Man darf natürlich nichts von heute auf morgen intensiv betreiben. Retro-Running ist eine Vorfuß-Sportart und da können typische Vorfußprobleme auftreten, besonders für Langstrecken-Läufer, die sonst verstärkt auf dem Mittelfuß laufen.
Aber schwerwiegende Belastungen gibt es nicht?
Was die meisten am Anfang auf jeden Fall haben werden, ist Muskelkater. Ob das negativ ist, muss jeder selbst beurteilen. Als ich angefangen habe – und da war ich Leistungssportler –, habe ich gedacht: Hoppla, was ist das denn?
Ich kam mir vor wie ein Anfänger. Man spürt Muskelkater in Regionen, in denen man sich das gar nicht vorstellen kann: zum Beispiel in den Armen.
In den Armen?
Ja, die schwingen nach hinten statt nach vorne. So werden eben andere Muskeln beansprucht. Und das merkt man.
Warum sollte man überhaupt rückwärts laufen, wenn es doch vorwärts viel besser geht?
Gott hat uns keine Augen hinten gegeben, stimmt schon. Aber ich sage ja nicht, dass jeder jetzt rückwärts laufen soll. Mein Credo ist: Man sollte es in seinen Alltag, in sein normales Training einbauen: Bei einem 5-Kilometer-Lauf zum Beispiel sowohl am Anfang als auch am Ende 500 Meter rückwärts laufen. Zum Ausgleich, um die Balance zu halten, Yin und Yang eben.
Zu einem Muskel gehört immer ein Gegenspieler?
Genau, wenn ich zu einseitig trainiere, bin ich verletzungsanfälliger. Im Fitness-Studio muss ich auch immer den Muskel-Gegenspieler trainieren. Den kann ich nicht vernachlässigen.
Wird man durchs Rückwärtslaufen auch vorwärts schneller?
Absolut. Spitzenprofis trainieren das fast alle, auch wenn sie es manchmal nicht zugeben. Das ist Teil des Geheimtrainings. Vom jamaikanischen Sprinter Asafa Powell gibt’s Videos im Internet, wo er rückwärts läuft.
Video: Asafa Powell läuft rückwärts
Auch Dieter Baumann hat es als Koordinationskräftigung in sein Training eingebaut. Ich behaupte: Man wird dadurch auch vorwärts schneller. Mir hat es auf jeden Fall was gebracht, weshalb ich auch ein Buch darüber geschrieben habe: “Retrorunning”.
“Auf der Bahn laufe ich quasi blind”
Hat sich denn in der Entwicklung des Retro-Runnings in den vergangenen Jahren was getan?
Die Leute betreiben es jetzt intensiver. Es gibt mehr Wettbewerbe, mehr Rekorde. In der Läuferszene ist es auf jeden Fall akzeptierter. Ich kenne zwar keine genauen Zahlen, aber es gibt viele, die es in ihr Training integrieren.
Aber auch außerhalb der Szene ist es nicht mehr so außergewöhnlich. Im Übrigen finden zum Beispiel in Italien pro Jahr etwa 30 Rückwärtslauf-Veranstaltungen statt.
Ist es eigentlich ein schönes Gefühl beim Laufen zu sehen, wer langsamer ist?
Es ist ein Supergefühl – und psychologisch ein Riesenvorteil. Zumindest für diejenigen, die vorne laufen. Beim Vorwärtslaufen sieht man ja die hinteren Läufer nicht.
Man kann das ja bei Olympia oft beobachten, wo der Zweite dann kurz vor dem Ziel noch mal Auftrieb bekommt und aus dem Windschatten zum Sieg läuft. Beim Rückwärtslaufen ist es umgekehrt: Da sehe ich, wenn der Zweite aufholt – und kann noch mal Gas geben.
Wie machen Sie das eigentlich mit dem Gucken? Laufen Sie blind?
Wir laufen ja meist auf der Tartanbahn, da kann man sich an den Bahnen orientieren. Das ist ähnlich wie bei den Rückenschwimmern, die sich entweder an der Hallendecke oder an den Leinen ausrichten. Auf der Bahn laufe ich also wirklich quasi in Laufrichtung blind.
Seitlich gucken – kostet Zeit?
Das lenkt ab und kostet Energie. Wenn man es sportlich sieht, ist das keine Option.
Und wie machen Sie das, wenn Sie in der Stadt laufen?
Wenn ich draußen laufe, machen wir “Mixed Running”. Das heißt, einer läuft vorwärts mit mir mit und sagt: “Da ist eine Pfütze, da ein Stock oder ein Hund.” Ich falle nicht mal im Winter hin.
“Mixed Running” ist ein Riesenspaß, weil man sich beim Laufen in die Augen schauen kann und man lernt auch, jemandem voll zu vertrauen, du legst dich völlig in die Hände des anderen. Das ist eine Erfahrung, da sage ich: Danke Rückwärtslaufen.
Retro-Running bringt einen also auch mental nach vorne?
Ja, es hilft, Ängste abzubauen. Wie viele Leute haben ständig Angst vor Kleinigkeiten? Wenn ich mit 25 Kilometer pro Stunde durch die Gegend laufe, ohne was zu sehen, bauen sich die Ängste allmählich ab.
Aber wie signalisiert ihr “Mitläufer”, wenn wirklich mal eine Pfütze auf der Strecke liegt?
Er gibt die Richtung vor, ich laufe hinterher. Er ist quasi mein Spiegel. Manchmal geht auch einfach nur die Hand raus, die anzeigt: Lauf mal nach links.
Was sollten Anfänger*innen beachten?
Ganz einfach. Sie sollten sich eine möglichst gerade Strecke ohne Hindernisse aussuchen und es 100, 200 Meter ganz langsam ausprobieren. Dann steigert man sich allmählich. Es gibt da kein Patentrezept, das muss jeder für sich selbst sehen.
Ist Rückwärtslaufen auch für Leute, die keine leidenschaftlichen Vorwärts-Läufer*innen sind?
Warum nicht? Ich habe mal ein Seminar für Kurpatienten gegeben, da waren Leute dabei, die komplett unsportlich waren. Manche waren schon 85 Jahre alt. Das Rückwärtslaufen haben sie aber als eine interessante und bereichernde Körpererfahrung gesehen. Denn vielen fällt das schwer, die trauen sich nicht, 50 Meter rückwärts zu gehen.
*Um die Antworten der Interviewpartner*innen nicht zu verfälschen, werden lediglich die Fragen “gegendert”.