Der Magen rebelliert, Schweiß bricht aus – Emotionen wirken sich auch immer auf den Körper aus. Vor allem negative Erfahrungen hinterlassen physische Spuren. Studien zeigen, dass sich solche Blockaden leichter lösen, als bislang angenommen. Sport-Mediziner Dr. Fernando Dimeo erklärt, wie das geht.
Achilles Running: Herr Dr. Dimeo, Sie haben drei Viertel Ihrer Testpersonen mit nur einer einzigen Therapie-Sitzung bei der Stress- und Problembewältigung geholfen. Wie haben Sie das geschafft?
Dr. Fernando Dimeo: Wir haben die Proband*innen gebeten, uns zu berichten, was sie bei einem bestimmten Problem oder Konflikt empfinden. Dann haben wir die Aufmerksamkeit auf die physischen Reaktionen gelenkt und gesagt: Versuchen Sie, diese körperlichen Empfindungen noch deutlicher wahrzunehmen oder zu verstärken.
Also, Menschen, die ihre Faust ballen, während sie von einem Streit berichten, erhalten die Anweisung, sie noch stärker zu ballen?
So ungefähr, ja. Manche haben auch einen Kloß im Hals, ein Magengrummeln, da ist das schwerer. Andere wiederum sehen eine bestimmte Farbe oder ihnen ist schwindelig. Die Gefühle manifestieren sich immer im Körper.
Dass Körper und Psyche zusammenhängen, ist ja nichts Neues. Was ist so besonders an Ihrem Ansatz?
Die meisten Therapien versuchen, die Beschwerden der Patient*innen zu unterdrücken. Autogenes Training beispielsweise funktioniert so: Sie haben ein Gefühl, das für Sie unangenehm ist und das dementsprechend eine unangenehme körperliche Reaktion hervorruft. Das autogene Training versucht nun, Sie zu entspannen und die leidigen körperlichen Empfindungen zu reduzieren. Wir machen das Gegenteil. Wir verstärken die körperlichen Symptome.
“Gefühle manifestieren sich immer im Körper”
Was soll das bringen?
Es klingt erstmal widersinnig. Das Erstaunliche ist aber, dass die Testpersonen merken, dass sie nicht das Gefühl selbst als unangenehm empfinden, sondern den Widerstand gegen das Gefühl.
Es hilft mir also schon, wenn ich meine negativen Gefühle akzeptiere und mich nicht noch dagegen stemme?
Genau. Sie realisieren, dass ihre Angst, Trauer, Wut völlig in Ordnung ist und Sie diese nicht unterdrücken müssen. Wir ballen ja nur die Fäuste, weil wir nicht wissen, wohin mit unseren negativen Gefühlen.
Wenn die Beine zittern, mir ein Kloß im Hals steckt, ich die Schultern hoch ziehe, dann ist das nicht Ausdruck und Folge meiner Gefühle, sondern resultiert aus dem Widerstand dagegen?
Ja. Ein Beispiel: Wenn Sie bei starkem Gegenwind laufen, machen Sie Folgendes: Sie legen sich noch mehr ins Zeug. Aber je stärker Sie Widerstand gegen den Wind aufbauen, desto stärker spüren Sie ihn. Wenn Sie loslassen und sich vom Wind treiben lassen, spüren Sie ihn kaum noch.
Aber er bläst mich vielleicht in die falsche Richtung.
Das ist ein Vorurteil, aber das ist auch genau das, was die Proband*innen empfinden: Die Gesellschaft hat sie gelehrt, dass es nicht in Ordnung ist, Wut zu empfinden, Angst zu spüren oder sich einsam zu fühlen. Und weil sie denken, dass es nicht okay ist, stemmen sie sich gegen das Gefühl. Sie möchten keine Traurigkeit oder Angst empfinden. Aber sobald sie akzeptieren, dass das Gefühl da ist und es in Ordnung ist, verspüren sie Erleichterung.
“Dann wird Laufen zur Flucht”
Körperliche Aktivität gilt ja als eine Art Ventil. Viele laufen, wenn sie Stress haben. Macht das Sinn?
Das kommt darauf an: Wenn sie Ärger verspüren, laufen, sich danach beruhigt haben und dann angemessener mit der Situation umgehen können, ist das gut. Wenn sie aber laufen und die Situation danach ist genau die gleiche, können sie gerne nochmal eine Runde drehen. Sie drehen sich im Kreis.
Manche werden auf diese Weise laufsüchtig. Die laufen nur, um sich davon abzulenken, dass ihre Partnerschaft nicht mehr richtig funktioniert oder sie sich nicht trauen, den verhassten Job zu kündigen. Dann wird Laufen zur Flucht.
Wie vielen Testpersonen hat die Therapie-Sitzung geholfen?
Bei zwei Dritteln der Proband*innen hat eine einzige Sitzung bereits etwas bewirkt. Die Vorgehensweise ist ja die: Sie bauen den Widerstand zunächst immer mehr auf. Ab einem bestimmten Punkt haben die Versuchsteilnehmer*innen den Widerstand nicht mehr als schlecht, anstrengend oder böse wahrgenommen, sondern einfach nur als merkwürdig. Viele haben berichtet, dass das negative Gefühl irgendwann weg sei. Was natürlich nicht stimmt: Gefühle sind immer da. Was weg war, war der Widerstand.
Therapie-Erfolg nach einer Sitzung, das klingt zu schön, um wahr zu sein. Wie hoch sind die langfristigen Erfolgsaussichten?
Wir hatten einen Probanden, der eine Phobie vor der Dunkelheit hatte. Der hat ständig Angstanfälle bekommen. Nach der Sitzung verschwanden seine Ängste und sind heute – knapp ein Jahr später – nicht wieder aufgetaucht. Aber die Länge der Therapie ist nicht so wichtig. Es dauert so lange, wie es eben dauert. Entscheidend ist: Wir haben alle mehrere Rucksäcke mit Problemen. Viele haben aber folgende Erfahrung gemacht: Wenn sie einen Rucksack abgelegt haben, sich also ein Problem gelöst hat, laufen sie freier.
Interview: Frank Joung
Zur Person: Dr. Fernando Dimeo ist Leiter der Sportmedizin-Abteilung an der Berliner Charité. Der Argentinier, Jahrgang 1964, weiß auch praktisch, wie es läuft: Seine Marathon-Bestzeit liegt bei 2:19 Stunden. Dimeo ist Co-Autor des Buches Krebs und Sport.