Ballett-Tänzer*innen hungern, Hobby-Läufer*innen zählen Kalorien – Sportler*innen nehmen gezielt ab. Doch wann wird die Kontrolle zur Störung? Maja Langsdorff, Journalistin und Buchautorin, beschäftigt sich seit mehr als zwanzig Jahren mit dem Thema. Sie erklärt, weshalb bestimmte Sportler*innen für Ess-Störungen anfällig sind.
Achilles-running.de: Frau Langsdorff, bei den Begriffen Magersucht und Bulimie klingeln bei den meisten die Alarmglocken – warum schreit keiner auf, wenn Sportler*innen extrem abnehmen?
Maja Langsdorff: Im Sport ist das Thema Ess-Störung stark tabuisiert. Ich kenne ein Beispiel aus einem berühmten Balletthaus. Da hatte eine Tänzerin ein so dramatisches Untergewicht, dass es selbst den Verantwortlichen aufgefallen ist.
Nur haben die nicht etwa gesagt: “Mach eine Therapie”, sondern haben sie der Tänzerin mit der Kündigung gedroht. Das zeigt, dass die Leute in diesen Bereichen überhaupt noch nicht begriffen haben, was da angerichtet wird.
Es wird alles dem Erfolg untergeordnet, sogar das Essen?
Ja. Es gibt in jedem Sport ästhetische Ideale, die Figur, Gewicht und Aussehen betreffen. Wenn Mädchen in der Rhythmischen Sportgymnastik nicht 10 bis 20 Prozent Untergewicht haben, dann gelten sie als dick. Und wenn das von Menschen gefordert wird, die von Natur aus nicht dünn und superleicht sind, kann es gefährlich werden.
Hinzu kommt, dass es im Leistungssport akzeptiert ist, wenn man auch ungesunde Lebensweisen an den Tag legt. Man tut alles für den Erfolg. Wenn aber Probleme sichtbar werden, schauen viele weg, nach dem Motto: Was nicht sein darf, das kann auch gar nicht sein.
Woran erkenne ich denn überhaupt: Ich bin essgestört?
Es gibt keine schlüssige Definition. Die Übergänge sind meist fließend. Ich würde sagen: Wenn man sein ganzes Verhalten darauf ausrichtet, dünn bleiben zu wollen oder die Gedanken den ganzen Tag ums Thema Essen kreisen. Wenn man Verabredungen absagt, um allein essen zu können oder nicht essen zu müssen, dann ist man schon in einer kritischen Phase. Es ist ja absurd: Den ganzen Tag ans Essen zu denken und dann zu hungern.
“Früher hat man gesagt: einmal Ess-Störung, immer Ess-Störung”
Kann man denn die “alltägliche” und die “leistungsbezogene” Ess-Störungen miteinander vergleichen?
Es kommt häufig vor, dass Menschen, die Ess-Störungen haben, versuchen, sich über exzessive sportliche Ausarbeitung zu kontrollieren, also ihr Gewicht niedrig zu halten. Beispiel Laufen: Durch das Verbrennen der Kalorien wollen Sie ihren Stoffwechsel ankurbeln, damit sie dünn werden oder bleiben.
Warum sind Sportler*innen besonders gefährdet für Ess-Störungen?
Sportler*innen sind meist sehr leistungsorientiert. Sie sind perfektionistisch, ehrgeizig, haben eine sehr hohe Leistungsbereitschaft, den Willen, sich dem Erfolg unterzuordnen und bestimmte ästhetische Normen verinnerlicht. Dazu kommen der Erwartungsdruck von außen und der Erfolgszwang.
Das sind alles Merkmale, die sowohl auf den Leistungssport als auch auf Menschen mit Ess-Störungen zutreffen. Profi-Sportler*innen in bestimmten Disziplinen haben also durch den hohen Leistungsdruck und die rigiden Vorgaben eine große Anfälligkeit für Ess-Störungen. Man muss aber auch klar sagen: Nicht alle Sportler*innen, die auf gesunde Ernährung und ihre Figur achten, sind gleich magersüchtig.
In welchen Disziplinen sind Sportler*innen denn besonders gefährdet?
Ballett, Rhythmische Sportgymnastik, Turnen, Synchronschwimmen, bei den Männern sind es oft die Jockeys, die essgestört sind. Außerdem Rudern, Judo, Laufen – wobei Männer etwas weniger gefährdet sind als Mädchen und Frauen. Bei Frauen achtet man eben noch stärker aufs Äußere.
Was können Ess-Störungen im Sport für Folgen haben?
Wenn man im Leistungssport in eine Ess-Störung reingerät, kann man sich enormen körperlichen Schaden zufügen. Als erstes geht das Eiweiß verloren, das man für die Muskeln braucht. Unterernährung fördert zudem die Entstehung von Infektionen, Elektrolytentgleisungen und Herz-Rhythmusstörungen.
Bei Mädchen und Frauen bleibt die Regelblutung aus und die Knochen werden entkalkt. Viele essgestörte Tänzerinnen zum Beispiel haben schlechte Knochen und leiden oft unter Ermüdungsbrüchen.
Viele fangen mit dem Laufen an, um abzunehmen. Je mehr und besser man läuft, desto stärker achtet man aufs Essen – ein Kreislauf, der zum Teufelskreis werden kann. Wie kommt man da wieder raus?
Wenn man da reingeraten ist, macht es Sinn, sich schnell fachliche Hilfe zu holen. Selbsthilfegruppen, in denen man sich mit anderen austauscht, können anfangs gut helfen. Ist die Ess-Störung schon weiter fortgeschritten, sollte man eine psychologische Gruppe, eine Beratungsstelle oder eine*n Therapeut*in aufsuchen. Insgesamt ist es ein langer Weg. Früher hat man gesagt: einmal Ess-Störung, immer Ess-Störung.
Und heute?
Heute heißt es eher: So lange, wie ich brauche, um in die Ess-Störung reinzukommen, brauche ich oft auch, um wieder rauszukommen. Der wesentliche Unterschied zu Süchten ist: Auf Alkohol oder Zigaretten kann ich verzichten, aber Essen muss ich ein Leben lang.
“Man muss die eigenen Probleme aufspüren”
Was heißt das für Essgestörte?
Sie müssen lernen, besser mit sich und ihrem Körper umzugehen. Sie müssen lernen, Kritik auszuhalten, sich im Leben besser zu bewähren und sich in ihrer Haut wohlzufühlen. Wichtig, ist auch, dass man Verletzungen oder Kritik nicht durchs Essen kompensiert. Also sofort zum Kühlschrank rennt oder das Essen verweigert.
Essgestörte müssen sich viel mit sich selbst auseinandersetzen und das ist meistens nicht im Alleingang möglich. Essen ist die Symptomebene, man muss an die Ursache gehen: Warum überhaupt will der Mensch so dünn werden oder bleiben?
Leistungssportler*innen fällt es nach der aktiven Laufbahn häufig schwer, sich “normal” zu ernähren. Woran liegt das?
In der Sportlerkarriere gibt es viel Halt, Struktur, bestimmte Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen. Wenn der Sport wegbricht, ist das alles nicht mehr relevant und dann verlieren viele Sportler*innen ihre Orientierung. Das heißt: Wenn sie vorher schon mit dem Essen manipuliert haben, um bestimmte Ziele zu erreichen, dann wird das nicht plötzlich aufhören.
Im Gegenteil: Oft wird es noch stärker. Wenn man einmal diese Verhaltensweisen gelernt hat, nicht an die eigenen Probleme zu gehen, sich nicht spüren zu wollen, sondern nur zu funktionieren. Wenn man sich nicht mit dem konfrontiert, was dahintersteckt, dann wird man immer Übersprungshandlungen haben, nach irgendwas süchtig werden oder eben mit Ess-Störungen reagieren.
Wie kann man sich dem ganzen Schlankheitswahn und Leistungsdruck entziehen?
Ganz wichtig ist, ein stabiles Selbstbewusstsein aufzubauen und ein gesundes Körpergefühl zu entwickeln. Man sollte sich nicht an fremd auferlegten Maßstäben messen. Das kann nicht gut gehen. Jeder Körper ist anders. Der eine ist ein laufender Meter, der andere ein Windhund.
Wir können nicht alle Windhunde sein. Diejenigen, die mit sich selbst zufrieden sind, haben oft eine so tolle Ausstrahlung, dagegen wirkt der Windhund vielleicht langweilig.
Zur Person: Maja Langsdorff, Jahrgang 1956, ist ausgebildete Ballett-Tänzerin, freie Journalistin und Sachbuchautorin. Als eine der ersten in Deutschland hat sie sich bereits Mitte der 80er-Jahre in Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen: Bulimie – Verstehen und heilen mit dem Thema Ess-Störungen beschäftigt.