Lauftrainer Peter Greif hat schon zahlreiche Läufer*innen “veredelt” – darunter auch Tobias Sauter, der jetzt beim WM-Marathon startet. Im Interview sagt Greif, woran er ein Talent erkennt und warum sich die Deutschen zu wenig quälen.
Achilles Running:* Herr Greif, am Samstag geht beim WM-Marathon einer Ihrer ehemaligen Schützlinge an den Start: Tobias Sauter, vor ein paar Monaten noch ein reiner Spaß-Läufer. Warum hat er mehr Talent als andere Freizeit-Sportler*innen?
Peter Greif: Da muss ich erst einmal etwas korrigieren. Erstens: Tobias ist nicht mein ehemaliger Schützling, sondern er bekommt weiterhin einen Plan von mir und ich berate ihn auch noch. Zweitens: Tobias war nie ein Spaß-Läufer im eigentlichen Sinne.
Als er anfing zu laufen, wollte er schon siegen und so schnell wie möglich rennen. Da war weder eine Gesundheits-, Vorsichtigkeits- oder Genussidee dabei.
Wann haben Sie zum ersten Mal von Sauter gehört?
2003 rief mich sein ehemaliger Lehrer Dieter Rebstock aus Leonberg an: “Wir haben hier einen 18-jährigen Jungen, der rennt wie ein Wilder. Der braucht einen Plan von dir, hat aber kein Geld.” Den Plan bekam er, Dieter und ich teilten uns die Kosten. Und so ging es dann los, gleich auf dem höchst möglichen Niveau.
Wie haben Sie Sauter in Erinnerung?
Tobi ist ein absolut liebenswerter und netter Junge, aber auch ehrgeizig und kampfeslustig. Er war zum Start seiner Karriere erst etwas chaotisch und wollte zu schnell zu viel. Das ließ ihn das Training ständig übertreiben. Wenn ich ihm – auf seinen Wunsch – 200 Wochen-Kilometer aufschrieb, lief er 270 Kilometer. Das hatte zur Folge, dass er sich immer wieder verletzte. Nur hörte er aufgrund seiner Verletzung nicht auf zu trainieren. Er ging stundenlang Aqua-Joggen.
Haben Sie ein Beispiel für seinen großen Ehrgeiz?
Eine schier unglaubliche Geschichte beschreibt seine Härte gegen sich selbst am deutlichsten: 2007 konnte Tobi für drei Monate keinen einzigen Schritt laufen, ein Muskel im Gesäß spielte verrückt. Er trainierte darum ausschließlich im Wasser.
Und jetzt der Wahnsinn: Er stieg von einem Tag auf den anderen aus dem Wasser, ging an den Start des Mittelrhein-Marathons und gewann diesen in 2:30 Stunden. Anschließend musste er noch schlimmer verletzt wieder rein in das flüssige Nass. Der Grund für diese Tortur war das ausgesetzte Preisgeld, welches er brauchte, um sein Flugticket in die USA zu bezahlen. Tobi nahm dort ein Studium auf. Erst im nachfolgenden Winter konnte er auch wieder auf dem Trockenen laufen.
Was konnten Sie ihm beibringen?
Ich konnte Tobi zeigen, wie man strukturiert trainiert, welche Einheiten in welchem Tempo zu laufen sind, und dass es auch wichtig ist, entsprechend leistungssportlich orientiert zu leben. Es gelang mir auch, ihn zu motivieren, sich selbst bei seinen Zielen keine Grenzen aufzuerlegen. Mein Rat war, sich ein möglichst hohes, fast unrealistisches sportliches Fernziel zu setzen, aber seine Nahziele immer konservativ realistisch auszulegen. Und das hat geklappt.
Woran hat sich das gezeigt?
Im Herbst 2008 war Tobias in einer absoluten Hochform und startete beim Essen-Marathon. Er war zu diesem Zeitpunkt sicher schon in der Lage eine Zeit von 2:17 oder 2:18 Stunden zu laufen. Aber wir beide hatten vorsichtshalber erst einmal 2:19 Stunden eingeplant.
Er ging es auch ganz vorsichtig an, aber mit der Spitzengruppe. Er hielt sich auch noch zurück, als ein Konkurrent versuchte sich bei Kilometer 30 abzusetzen. Drei Kilometer weiter war aber dieser Ausflug gestoppt und dann flog Tobi nach einem Blick auf seinen Trainer davon. Bis ins Ziel rannte er jeden Kilometer in 3:10 Minuten. Er gewann das Rennen in 2:18:23 Stunden. Das war eine Verbesserung seiner persönlichen Bestleistung um mehr als vier Minuten.
Dieser perfekte Sieg hat mich damals emotional so stark berührt, dass mir im Ziel die Tränen liefen. Mir war in diesem Moment auch klar, dass der Junge noch deutlich mehr kann. Wer die letzten neun Kilometer in 3:10 Minuten pro Kilometer laufen kann, wird das irgendwann auch über die ganzen 42,193 Kilometer können. Und damit wäre Tobi dann schon in einer ganz anderen Leistungsklasse.
Hätten Sie ihm eine WM-Teilnahme zugetraut?
Ja, natürlich, nach dem Rennen in Essen allemal.
Woran erkennen Sie, ob ein*e Läufer*in Talent hat?
An ihrer Reaktion auf Training. Es gibt Läufer, die kommen mit einem halben Jahr Training von 45 Minuten pro zehn Kilometer auf 35 Minuten. Andere schaffen das in fünf Jahren nicht.
Was ist am wichtigsten, um an der Laufspitze zu bestehen: gute körperliche Voraussetzungen, Fleiß oder mentale Stärke?
Alle drei Voraussetzungen sollten gleichmäßig vorhanden sein. Das Wichtigste aber ist der Wille, ein hohes Ziel zu erreichen. Und zwar unter dem Motto: “Komme wer oder was da wolle.” In diesem Sinne ist Tobias Sauter ein Turm unter einer Schar von Flachschrauben.
Warum gibt es hierzulande so wenige gute Marathon-Läufer*innen?
Der Hauptfaktor bei uns ist die mangelnde Armut. Unsere Leute haben große Chancen zum gesellschaftlichen und finanziellen Aufstieg. Bei uns muss sich keiner das gespaltene Ding bis zum Hals aufreißen, um aus dem Dreck der Hütten herauszukommen. Schon gar nicht mit einer Sportart, die großen Fleiß und auch teilweise schmerzhafte Arbeit voraussetzt.
Ein anderer wichtiger Faktor ist die Mutlosigkeit unserer Jugend. Ein Beispiel dazu: Vor einigen Jahren coachte ich Tobias Sauter beim Hamburg-Marathon. An der Strecke standen neben mir einige junge talentierte Läufer, die mir bekannt waren. Sie schauten, wie die führenden Afrikaner vorbeizogen. Ich fragte sie, warum sie denn nicht mitlaufen würden. “Mich selbst juckt es immer noch mitzulaufen”, sagte ich, “und ihr, die es können würdet, steht hier nur herum und lästert in das Feld.
Einer antwortete mir: “Ich habe so oder so keine Chance, dazu habe ich die falsche Hautfarbe.” Ich dachte mir: “Du Arsch, fürchtest dich doch nur vor dem hohen Trainingsanspruch. Und hast keine Idee, wie du gegen die Übermacht der Afrikaner ankommen könntest.” Man hat immer eine Chance. Anderes Training, bessere Ernährung, geschicktere Vorbereitung und mehr Fleiß lassen immer noch unbeschrittene Wege offen. Nur probieren muss man es, sonst geht bei uns gar nichts mehr vorwärts.
Offenbar wird wenig probiert. Warum?
Die Idee zum Training vieler Talente ist die Leichtigkeit und die “Intelligenz” des Trainings. Harte Arbeit mit jungen Leuten heißt heute “verheizen”. Wenn zur Zeit ein Jugendlicher die 1.500 Meter unter vier Minuten läuft, dann ist er ein Talent und muss geschont werden. An ein Marathon-Training für dieses “Talent” wäre gar nicht zu denken.
Wer es versucht, wird von der Trainergilde gemobbt. Hierbei wird vergessen, dass man mit so einer Leistung als 18-Jähriger kaum die Chance hat, jemals an die internationale Spitze zu kommen.
Warum aber muss er denn dann geschont werden? Um Deutscher Meister zu werden?
Lohnt sich nicht, denn Deutscher Meister wird man, egal wie schnell man läuft. Hauptsache man ist vorn …
Zur Person: Peter Greif war einer der namhaftesten Lauftrainer Deutschlands. Bekannt wurde der Diplom-Braumeister, als er 1984 einen Marathon für “Dicke” gewann. Damals wog Greif 90 Kilogramm und lief die 42,195 Kilometer in 2:33 Stunden. Ab 1991 trainierte er im “Greif-Club” tausende Läufer*innen aller Leistungsniveaus. Am 30. Juli 2018 verstarb Peter Greif im Alter von 75 Jahren.
*Um die Antworten des Interviewpartners nicht zu verfälschen, werden lediglich die Fragen “gegendert”.