Die Sportartikelindustrie bietet Dr. Matthias Marquardt zufolge für viele Hobbyläufer*innen keine vernünftigen Schuhe an: Der Sportmediziner glaubt, dass sich bestimmte Modelle schlecht vermarkten lassen.
Achilles Running: Herr Marquardt, was sind die Grundvoraussetzungen, die jeder Laufschuh erfüllen sollte?
Dr. Matthias Marquardt: Der Schuh muss vor allem schützen: vor dem harten Asphalt, vor Kälte, Nässe oder spitzen Steinen. Alle weiteren Eigenschaften haben dann in erster Linie mit dem Tragekomfort zu tun, zum Beispiel die Dämpfung. Bei der haben die Hersteller übrigens über das Ziel hinaus geschossen.
Das müssen Sie erklären.
Die Laufschuhindustrie hat ihre Schuhe über mehrere Jahrzehnte immer weicher gemacht, immer stärker gedämpft. Für den Kunden mag das auch logisch klingen: Er denkt, das Kniegelenk funktioniert wie ein Stoßdämpfer – je mehr Stöße es aushalten muss, desto größer die Abnutzung. Das Kniegelenk ist aber ein biologisches Gewebe, das sich regeneriert und sogar ein Stück weit Belastungen braucht, damit es ernährt wird.
Viel Dämpfung lässt sich also leichter verkaufen, ist aber gar nicht nötig?
Stark gedämpfte Schuhe können dem Läufer sogar schaden. Denn man hat festgestellt, dass durch den Siegeszug der Dämpfung auf einmal Achillessehnenentzündungen überhand nahmen. Daraufhin versuchten die Hersteller durch Pronationsstützen die Beweglichkeit des Fußes zu korrigieren, was Verletzungen vermeiden sollte.
Wer viel trainiert, ist häufiger verletzt
Erst machte man die Schuhe also weicher, dann musste man sie abstützen…
…und dann hatte man den Stabilschuh, wie wir ihn seit den Neunziger Jahren kennen. Die schlechte Nachricht war nur: Die Verletzungen gingen immer noch nicht zurück.
Wie sah die Reaktion der Hersteller diesmal aus?
Marquardt: Sie sind inzwischen zurückgerudert und machen Schuhe, die flacher und weniger gedämpft sind und mehr natürliche Beweglichkeit zulassen. Verletzungsanfälligkeit lässt sich ohnehin nur schwer mit Schuhwerk oder Körperbau in Zusammenhang bringen. Wirklich sicher ist nur die Abhängigkeit vom Trainingsumfang: Wer mehr als 30 Kilometer pro Woche trainiert, ist schlichtweg häufiger verletzt.
Sind Billig-Schuhe vom Discounter also eigentlich gut genug?
Marquardt: Auch wenn ich die Laufschuhindustrie in einigen Bereichen kritisch beurteile, muss ich sagen: Die Hersteller bauen mit fantastischen Materialien sehr leichte Schuhe mit exzellenter Passform. Bei Billig-Laufschuhen haben Sie dagegen eine eklatant schlechtere Qualität, vor allem beim Material.
Diese Schuhe sind einfach schneller verschlissen und schief getreten, was zu orthopädischen Problemen führt. Schuhe für 200 Euro müssen aber auch nicht sein. Wer es sich leisten kann, kauft lieber zwei Paar für den halben Preis und wechselt ab.
“Beim Schuhkauf ist das Bauchgefühl das Wichtigste”
Dr. Matthias Marquardt
Woran erkennt man beim Laufschuhkauf, ob ein Schuh der Richtige ist?
Das Bauchgefühl ist das Wichtigste. Es gibt Daten, die andeuten, dass ein Läufer seltener verletzt ist, wenn er sich in seinen Schuhen wohlfühlt.
Was bedeutet, dass wir gar keine*n Schuhverkäufer*in brauchen.
Halt, bevor der Bauch spricht, muss der Verkäufer erst eine Vorauswahl treffen. Und dazu muss er sich meine Füße angucken, meine Beine, meinen Laufstil; außerdem sollte er mein läuferisches Vermögen kennen. Auch wenn der richtige Schuh nicht vor allen Verletzungen schützt: Der falsche Schuh kann nach wie vor Verletzungen verursachen.
Muss die/der Verkäufer*in eine Laufbandanalyse durchführen?
Nicht zwingend, sie entbindet den Verkäufer jedenfalls nicht davon, die eben genannten Dinge zu überprüfen. Der klassische Fehler, der sonst passiert: Der Verkäufer hat sich Fuß- und Beinachse nicht angeschaut und meint, beim Kunden auf dem Laufband etwas gesehen zu haben, was korrigiert werden muss. Wird dann etwa bei einem o-beinigen Läufer ein Knickfuß gesehen und mit einem Schuh korrigiert, könnte das Bein dadurch massiven Schaden nehmen.
Kein Platz für Supination
Gibt es überhaupt für jede*n Läufer*in den passenden Schuh?
Marquardt: Es gibt seit Jahren keinen einzigen Schuh, dem man bei einer Supinations-Fehlstellung empfehlen könnte, also einem Läufer, der über die Außenkante abrollt. Man muss von mindestens zehn Prozent Läufern mit einer solchen Fehlstellung ausgehen. Das heißt, dass in Deutschland rund 1,6 Millionen Menschen den falschen Schuh tragen – dazu kommen auch noch diejenigen, die falsche Schuhe tragen, weil sie schlecht beraten wurden.
Bei so einer großen Zahl – warum gibt es keine Supinations-Schuhe?
Aus der Führungsetage eines großen deutschen Sportartikelherstellers sagte mir mal jemand: “Matthias, wir haben 20 Jahre Marketing investiert, um den Verkäufern und dem Markt zu erklären, was eine Pronationsstütze ist. Da ist kein Platz für das Thema Supination.” Jetzt bewerben sie lieber ihre flachen, wenig gedämpften Schuhe.
Man hört, dass solche “Barfuß-Schuhe”, die immer populärer werden, für Anfänger*innen ungeeignet seien.
Andersherum: Ein erfahrener Läufer, der seit 20 Jahren in stark gedämpften Schuhen mit hohen Absätzen läuft, ist viel mehr gefährdet. Seine Füße und Waden sind durch die Schuhe sehr einseitig trainiert. Trägt er dann abrupt flache Schuhe, kriegt er Probleme. Ein Anfänger aber, der auch mal in Flip-Flops spazieren geht, ist zwar insgesamt schwächer, hat sich aber noch keine muskulären Ungleichgewichte antrainiert. Deshalb ist meine Überzeugung, dass gerade Laufeinsteiger flache Schuhe tragen sollten, um von Anfang an die Wadenmuskulatur mitzutrainieren.
Setzen Läufer*innen insgesamt zu viel Vertrauen in ihre Laufschuhe?
Marquardt: Viel zu viel! Es kommen immer wieder Läufer in meine Praxis, erzählen ihre Leidensgeschichte und wollen am Ende nur Eines wissen: welchen Laufschuh ich ihnen empfehle. Verletzungsfreies Laufen hängt aber nicht vom Schuh ab, sondern von vernünftigem Training.
Zur Person: Dr. med. Matthias Marquardt, Triathlet und Marathonläufer, beschäftigte sich nach hartnäckigen Verletzungen ausführlich mit der Frage nach der besten Lauftechnik. Das von ihm entwickelte Konzept des “77 Dinge, die ein Läufer Wissen muss”.