Hat dauerhafte mentale Belastung eine Auswirkung auf die sportliche Leistung? Und wenn ja, welchen Einfluss können anhaltender Alltagsstress und Krisen auf unsere sportliche Performance haben? Unsere Redakteurin Anna ist dem Thema mentale Müdigkeit auf den Grund gegangen.
„Links, rechts, links, rechts“, sagt die Stimme in deinem Kopf. „Armarbeit! Hüfte stabilisieren! Schneller!“ Du läufst, schiebst deinen Körper durch die sich windenden Straßen. Schweißtropfen ziehen lange Bahnen auf deiner Stirn. Der Blick auf die Uhr verrät, dass du erst 20 Minuten läufst und weit unter deiner Ziel-Pace liegst.
Wut, Frust und Verzweiflung breiten sich wie ein Schluck zu heißer Tee im Magen aus. Denn gefühlt gibst du alles, aber du wirst einfach nicht schneller. Seit Tagen. Es ist als, ob du durch eine zähe Gummimasse läufst. Jeder Schritt erfordert Kraft. Wo ist nur die Schwerelosigkeit hin, mit der du noch vor ein paar Wochen deine Trainingseinheiten absolviert hast?
Liegt es an dir? Immerhin ist in den vergangenen Wochen viel passiert. Seit die Pandemie sich ausbreitete, hast du zum Stressausgleich dein Trainingspensum gesteigert und dich parallel um deine Kinder gekümmert, die nicht mehr in die Schule gehen konnten. Gleichzeitig wurde aus einem stressigen Büro-Job ein noch stressigerer Home-Office-Alltag und überhaupt, wie kann es sein, dass wir schon die Hälfte des Jahres 2020 erreicht haben und du noch so gut wie nichts von dem erreicht hast, was du eigentlich schaffen wolltest?
All das kann müde machen und auslaugen.
Mentale Erschöpfung kann sportliche Leistung verringern
Der anhaltende Stress kann Auswirkungen auf deinen Körper, deine Psyche und konsequenterweise auch auf deine sportliche Leistung haben. Fachleute sprechen von „Mental Fatigue“, also mentaler Müdigkeit oder Erschöpfung und bezeichnen damit, laut dem Sportwissenschaftler Niklas Ehrhardt, ein „umfassendes physiologisches und psychologisches Problem, das sich auch auf die sportliche Leistung auswirken kann.“
Die Sportwissenschaft interessiert sich für das Problem vor allem im Bereich des Profi-Sports. Im April 2020 wurde zum Beispiel eine Studie im Journal Medicine & Sports in Sports & Exercise zu diesem Thema veröffentlicht. Deren Ergebnisse deuten darauf hin, dass anhaltende und anstrengende kognitive Aufgaben, wie zum Beispiel lange Arbeit am Computer, sich negativ auf die Leistungsfähigkeit von professionellen Läufer*innen auswirken.
“Mental Fatigue” hat größere Auswirkungen auf Läufer*innen
Mental Fatigue wirkt sich laut Ehrhardt „tatsächlich mehr auf Läufer aus.“ Das könne daran liegen, dass sie während des Laufens viel Zeit und Kapazität zum Nachdenken haben. Nicht nur Profis seien davon betroffen, sondern auch Lauf-Normalos können in einen mentalen Erschöpfungszustand geraten. Aber wie zeigt sich das im Körper?
„Bei Menschen, die einen mentalen Erschöpfungszustand erleben, ist der Körper und vor allem das Gehirn konstant biochemisch aktiviert,“ erklärt Ehrhardt, der zurzeit an der Universität Stuttgart promoviert. „Indem wir ständig vor Bildschirmen sitzen, soziale Medien konsumieren, in Meetings viele Informationen über kurze Zeit verarbeiten müssen, sind wir vielen Reizen ausgesetzt,“ sagt der Experte. „Manchmal kann das zu viel werden. Das Gehirn hat eine Verarbeitungsgrenze. Wird diese dauerhaft strapaziert, führt das zu mentaler Ermüdung“.
Außerdem habe auch die Umwelt einen starken Einfluss auf unseren mentalen Zustand. „Alles, was wir über unsere Sinne wahrnehmen, führt zu einer Aktivierung der Gehirns. Hohe Geräuschpegel, weil man zum Beispiel an einer vielbefahrenen Straße lebt, wirken sich auch auf unser Nervensystem aus und können uns auslaugen.“ Es gibt also viele Gründe, weshalb Menschen in einen solchen Erschöpfungszustand geraten.
Anzeichnen von mentaler Ermüdung bei Laufenden
Sportler*innen können das zum Beispiel daran erkennen, dass sie ständig grübeln, Probleme nicht loslassen können oder emotional gereizt sind. Auch ein scheinbar unerklärliches Abfallen der Leistung kann Indikator dafür sein. Wer also plötzlich die Pace nicht mehr halten kann oder die Intervallzeiten scheinbar grundlos abstürzen, kann sich die Frage stellen, ob der Stress aus unterschiedlichen Quellen gerade etwas zu viel ist.
Das ist wichtig, denn auch der Frust über den Leistungsabfall kann eine Abwärtsspirale auslösen, die bis hin zum Übertraining, also einer Überlastung des Körpers, führen kann. Ehrhardt erklärt das so: „Wir empfinden Wut und Ärger, vielleicht auch Verzweiflung, wenn unsere Leistung plötzlich einbricht, vor allem wenn es keinen sichtbaren Grund gibt. Dadurch werden Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet, die sich wiederum auf unsere Muskeln auswirken.“
Diese Stresshormone befinden sich im Blutkreislauf und behindern so den Stoffwechsel des Muskels. Das könne zu einer größeren Laktatbildung führen. Der Körper brauche dann wiederum länger, um die Laktatmenge abzubauen. „Das bedeutet auch, dass die benötigte Regenerationszeit steigt, obwohl die Belastung gleichbleibt“, so Ehrhardt. Wer seinem Körper die Pause nicht gönnt, übernimmt sich langfristig.
Wenige kennen den Zusammenhang und trainieren weiter wie bisher, oder versuchen sogar das Pensum zu steigern. Das kann bis zum Übertraining führen. Aber was jetzt tun? Das Schreckgespenst Trainingspause hallt schon wieder durch unsere Köpfe.
Darf ich weitertrainieren?
Keine Sorge. Nein, mentale Erschöpfung heißt nicht zwangsläufig, dass du weniger trainieren musst. Also erstmal tief durchatmen.
Einatmen. Ausatmen.
Laut Ehrhardt macht es am meisten Sinn die Art des Trainings zu verändern, wenn man diesen Zustand bei sich selbst erkennt oder sogar einen Leistungsabfall bemerkt.
„Am besten sind intensive Einheiten, die kurz sind und uns keinen Raum für Gedanken lassen.“ Auch schnellere, aber dafür kürzere Läufe im Wald und im Gelände seinen sinnvoll, da man Reize setzt, aber gleichzeitig das Gehirn zwingt, sich weniger auf den Laufstil, die Pace, Zielzeiten und die eigenen Probleme zu fokussieren. Man muss für den Moment die essentiellen Dinge wahrzunehmen. Also ganz banal Wurzeln, über die man stolpern könnte oder einen Baum, dem man ausweichen muss. Das kann eine Art Reset-Button für unser angestrengtes Gehirn sein und, mal ehrlich, wer läuft nicht gerne Trail?
Darüber hinaus sollte man jedoch auch andere Aspekte seines Alltags verändern. Läufer*innen sollten daher bei Leistungsabfällen nicht nur ihr Trainingsverhalten unter die Lupe nehmen, sondern auch Stressfaktoren aus ihrem Alltag identifizieren und daran arbeiten aktiv den Stress in ihrem Leben zu reduzieren. Aber wie kann das gehen? Ehrhardt hat drei Tipps für alle, die die Anzeichen von mentaler Müdigkeit bei sich erkannt haben:
1. Yoga, Meditation und autogenes Training
Ehrhardt empfiehlt der ständigen Aktivierung des Gehirns entgegen zu wirken. Das geht zum Beispiel durch Yoga, Meditation, autogenes Training und progressive Muskelrelaxation. Außerdem sei es gut, dem Gehirn regelmäßig reizarme Situationen zu gönnen. Wälder, Wiesen, Parks eignen sich besonders, um den „Cache“ des Gehirns zu leeren. Dabei am besten das Handy zuhause oder in der Tasche lassen und abschalten.
2. Mittagsschlaf
Auch ein Mittagsschlaf ist eine Methode, die der Experte empfiehlt. Dabei sollte man darauf achten, dass man nicht länger als 45 Minuten schläft, sonst trete die man in eine Tiefschlafphase ein, wonach man noch müder als vorher ist.
3. Ein Ansatz aus der japanischen Medizin: Shinrin-yoku
Früher hätte man die Behandlung mit Duftstoffen als Aromatherapie bezeichnet. Heute bekennt man sich auf die kulturellen Ursprünge. Denn dieser Ansatz kommt aus der japanischen Medizin und wird abgeleitet vom japanischen Waldbaden, dem sogenannten Shinrin-yoku. Bei dieser Form der Therapie gehen Menschen in den Wald und baden in der Atmosphäre und den Düften.
Bei Untersuchungen wurde festgestellt, dass Terpene, also die pflanzlichen Duftstoffe die Bäume und Waldpflanzen verströmen, eine positive Auswirkung auf Menschen haben. „Die Untersuchungen zeigten, dass Menschen durch diese Düfte mehr weiße Blutkörperchen bilden, die u.a. unser Immunsystem stärken,“ erklärt Ehrhardt. Die höchsten Konzentrationen von Terpenen wiesen Pinie und Lavendel auf. Dieser Ansatz gelingt recht einfach, wenn man Zuhause mit einem Diffuser Duftstoffe im Raum verteilt.
In diesem Sinne gönnt euch viel frische Luft, atmet durch, macht weniger Überstunden und chillt mal eine Runde. Das ist gesund!