Claudia Drosdek leidet an Multiple Sklerose (MS). Sport hilft ihr, mit der Krankheit zu leben. Im Interview erzählt sie von Schwindelattacken, Halbmarathon-Plänen und warum mehr MS-Patient*innen Sport treiben sollten.
Achilles Running: Frau Drosdek, viele MS-Patient*innen klagen über Bewegungsprobleme, Sehschwäche oder gar Lähmungserscheinungen, Sie aber trainieren gerade für den Halbmarathon. Was sagt Ihr Arzt dazu?
Claudia Drosdek: Der hat mich sogar ermuntert. Es gibt keinen Grund, warum ich nicht einen Halbmarathon laufen dürfte. Man muss aber dazu sagen: Für eine MS-Patientin habe ich sehr viel Glück. Mein letzter Schub ist schon eine Weile her und momentan fühle ich mich gut.
Multiple Sklerose ist unberechenbar und die Symptome können sich schnell ändern. Was passiert dabei?
Das ist total unterschiedlich. Seit der Diagnose 2009 hatte ich drei Schübe. Einmal litt ich unter einer Gesichtslähmung, wie bei einem Schlaganfall. Meine gesamte linke Gesichtshälfte mit Auge und Lippe hing nach unten. Ich konnte nur eingeschränkt sprechen. Das war schlimm für mich, denn da konnte man mir meine Behinderung wirklich ansehen.
MS-Symptome: Gesichtslähmung, Schwindelattacken
Ein anderes Mal hatte ich so starke Schwindelattacken und Gleichgewichtsstörungen, dass ich kaum den Weg vom Wohnzimmer zur Toilette geschafft habe. Ohne fremde Hilfe konnte ich mich nicht versorgen, habe einen Rollator zum Gehen gebraucht. Wenn das geblieben wäre, wäre ich jetzt ein Pflegefall.
Wie drückte sich die Krankheit zurzeit im Alltag bei Ihnen aus?
Leichte Sensibilitätsstörungen habe ich eigentlich immer. Das ist wie ein Kribbeln oder Jucken unter der Haut, auf Gesicht und Körper. Aber ich habe gelernt, damit zu leben. Manchmal habe ich Probleme, mich zu konzentrieren und es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Aber man gewöhnt sich daran.
“Eine Krankheit mit tausend Gesichtern”
Auch wenn es Ihnen vergleichsweise okay geht, Sie joggen nicht nur ein bisschen, sondern wollen einen Halbmarathon unter zwei Stunden laufen. Ist das nicht recht ambitioniert?
Klingt ungewöhnlich? Ja, man denkt, dass Menschen mit Multiple Sklerose im Rollstuhl sitzen und nichts mehr tun können. Das stimmt aber nicht. Nur bei ganz wenigen ist das der Fall. Multiple Sklerose ist eine Krankheit mit tausend Gesichtern. Sie ist nicht tödlich, wie viele denken. Bei der MS sind Entzündungen im Gehirn oder Rückenmark vorhanden.
Mit hochdosiertem Cortison lassen sich diese abschwächen. Im besten Fall ist der Schub nach ein paar Tagen oder Wochen vorbei. Manchmal bildet sich der Schub nicht vollständig zurück und Einschränkungen bleiben bestehen. Das ist mir zum Glück noch nicht passiert.
Aber haben Sie keine Angst, sich während des Sports zu verletzen?
Ich habe zum Glück keine Probleme mit der Motorik. Ich stolpere nicht mehr als ein gesunder Mensch.
Schwächt der Sport den Körper nicht noch zusätzlich und die Krankheit wird schlimmer?
Nein, überhaupt nicht. Bewegung ist wichtig, um die Muskulatur aufrechtzuerhalten. Man muss ja nicht unbedingt Marathon laufen, aber jede*r kann doch eine geeignete Sportart für sich finden. Ich selbst laufe leidenschaftlich, fahre Snowboard. Das habe ich schon immer gemacht. Letzten Sommer habe ich mit dem Kitesurfen begonnen. Ärzt*innen empfehlen Sport, zumindest Bewegung.
“Viele MS-Patient*innen ziehen sich zurück”
Warum treiben dann nicht die meisten MS-Patient*innen mehr Sport?
Das weiß ich nicht. Das Schlimme ist ja nicht die Krankheit selbst, sondern das, was noch mitschwingt. Viele MS-Patient*innen ziehen sich zurück, trauen sich nichts zu, werden depressiv. Sport hilft. Man kommt unter Menschen, stärkt sein Selbstvertrauen. Das gibt einem Halt. Durch den Sport halte ich die Krankheit im Zaum. Aber ich kann nur für mich sprechen. Bei anderen sind die Symptome viel stärker ausgeprägt als bei mir. Das kann von Sehschwächen bis zu Lähmungserscheinungen reichen.
Wie schränkt Sie die Krankheit im Alltag ein?
Gar nicht so sehr. Ich nehme regelmäßig Medikamente und muss alle drei Monate einen Blut- und Lebertest machen, um Nebenwirkungen der Medikamente auszuschließen.
Ansonsten kann ich ganz normal arbeiten und Sport machen.
Wie hat Ihr Umfeld auf die Krankheit reagiert?
Alle waren sehr nett zu mir, ich habe überall Unterstützung und Hilfe angeboten bekommen. Anfangs hatte ich Angst, dass man mir in der Arbeit manche Projekte nicht mehr zutrauen würde. Das wäre für mich als Workaholic echt schlimm gewesen (lacht). Aber diese Sorge war unnötig.
“Ich dachte, ein Nerv sei entzündet”
Wie haben Sie von der Krankheit erfahren?
Ich war im Sommerurlaub mit einer Freundin. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass meine ganze linke Gesichtshälfte taub ist. Das fühlte sich an, als hätte ich eine Spritze vom Zahnarzt bekommen. Ich dachte, ein Nerv sei entzündet. Der Zahnarzt fand nichts, er schickte mich zum Neurologen.
Eine MRT-Untersuchung ergab, dass ich Entzündungsherde im Gehirn hatte. Das war ganz schön absurd. Ich war 38 Jahre alt, immer kerngesund, habe viel Sport getrieben. Und dann so etwas.
Was hat sich durch die Krankheit in Ihrem Leben verändert?
Ich schiebe Sachen nicht mehr so lange auf. Wenn ich wohin reisen will, dann reise ich dahin. Ich habe Angst, dass ich das irgendwann nicht mehr machen kann. Deshalb laufe ich auch viel. Ich will mich nicht später mit der Frage quälen, warum ich bestimmte Dinge nicht getan habe, als ich es noch konnte. Außerdem denke ich seit der Diagnose: “Jetzt erst recht!”
Zur Person: Claudia Drosdek, Jahrgang 1971, wohnt in Essen und arbeitet in der Presseabteilung eines Unternehmens. Seit 2009 leidet sie an Multiple Sklerose. Die Krankheit kann sie jedoch nicht davon abhalten, einen Halbmarathon zu laufen.