Laufen, auf dem Boden, ist für Rookies – behauptet Redakteurin Ellen-Jane großmäulig. Deshalb hat sie ihre Angst überwunden und House Running probiert. Von Höhenangst und Herzwummern bei einem Hochhausspaziergang.
Ich sitze auf der Dachkante eines Hochhauses. So eine Aussicht über Berlin bekommt man nur selten: Die tief stehende Sonne reflektiert von den Lüftungsrohren und Satellitenschüsseln um mich herum, die Häuserfassaden in der Ferne gleichen in der diesigen Luft einem Scherenschnitt – und über allem ragt der Fernsehturm.
Faszinierend schön – und für mich völlig uninteressant, denn meine Beine baumeln frei in der Luft, 60 Meter über dem Gehsteig.
Genau genommen sitze ich auf einem sperrigen Stahlgerüst aus blauen Metallverstrebungen und Gitterboden, das auf dem Flachdach eines Hotels angebracht wurde. Meine Hände stecken in dicken Handschuhen und um meine Beine, meinen Bauch und um meine Arme sind Gurte geschnürt, die mich mit Seilen verbunden an dem Gerüst sichern.
Sechs Mal Zehnmeterbrett
In wenigen Momenten soll ich, mit Blick nach unten und von Seilen gesichert, die Hausfassade hinablaufen. House Running nennt sich diese Sportart, die man inzwischen in den meisten Großstädten Deutschlands ausüben kann.
60 Meter klingen vielleicht nicht hoch, aber wenn man sich vorstellt, auf ein Zehnmeterbrett zu steigen, ist das schon hoch. 60 Meter sind sechs Mal Zehnmeterbrett – oder wie ich es nenne: „ohgottohgottohgott-hoch“. Und Asphalt ist deutlich unnachgiebiger als Wasser. Warum habe ich überhaupt zugesagt?
Äußerlich bin ich total cool
Bei meiner Ankunft lag mein Puls noch bei 61. Auf dem Dach hat er sich fast verdoppelt. Außer mir sind hier noch vier Mädels, die auch nicht sicher sind, warum sie sich auf dieses Experiment eingelassen haben. Sie machen sich gegenseitig verrückt – ich versuche nicht hin zu hören. Nach außen will ich cool wirken, mache Witzchen mit dem Sicherungsteam und lache nervös in die Abendsonne.
Innerlich dreht sich mir der Magen um. Ich habe ein bisschen Sorge, die Hotelfassade mit meinem Erbrochenen zu verzieren, sobald ich über die Kante kippe. Höhenangst? Ich doch nicht.
Noch musste sich keiner übergeben
Ich will, dass meine Befürchtungen unbegründet sind und frage, ob sich schon jemand übergeben hat. Nein, behauptet Sina, meine, von der Höhe scheinbar völlig unbeeindruckte, Abseilerin. Aber es haben sich doch sicher schon einige in die Hosen gepinkelt, vor Angst, oder? Sie glaubt es nicht – zumindest nicht bei ihr. Und wie viele Leute, die auf der Kante sitzen, brechen ab? Ungefähr einer von Hundert, meint Sina.
Gerüste sind stabiler als Seile
Inzwischen habe ich mich fast an meinen Hochsitz gewöhnt – an den Wind, der über das Hoteldach weht und mir Strähnen aus dem Haarknoten wirbelt, an den freien Blick auf den Hauptstadthorizont – und so lange ich Sina in ein Gespräch verwickle, muss ich da nicht runter.
Aber sie durchschaut meine Taktik und weist mich an, die Hand vom Gerüst zu nehmen und nach dem Führungsungsseil zu greifen. Aber das Gerüst ist doch wunderbar – wirklich ein tolles, stabiles, sicheres Gerüst. Und das Seil … Seile sind wackelig.
Ich bin kein Vogel
Ich stehe auf. Meine Fersen drücken in den Sims des Daches und meine Zehen schweben über dem Abgrund. Instinktiv greife ich wieder nach dem Gerüst. Ich soll nicht nach unten schauen, lieber auf den Horizont, sagt Sina. In dem Moment segelt ein Vogel in der Ferne an uns vorbei. Ich beneide ihn um seine Flügel. Vögel können nicht fallen – Vögel fliegen. Ich bin kein Vogel.
Ich nehme die Hand wieder vom Geländer und neige mich ganz langsam nach vorne – und setze mich sofort wieder hin. Ich kann nicht. Verdammt. Ich hatte es mir doch so fest vorgenommen. Ich wollte mir selbst beweisen, dass es sich lohnt Ängste zu überwinden. Wenn man es logisch betrachtet, war meine Radfahrt zur Location vermutlich riskanter, als das House Running selbst. Aber von Logik ist mein Bauch gerade Lichtjahre entfernt.
Ich werde hektisch – und falle
Während ich über den Dächern Berlins sitze und selbstmitleidig überlege die Aktion abzubrechen, schießt mir ein Zitat von Poetry-Slammerin Julia Engelmann in den Kopf: „Hör auf zu fragen, ob du kannst, sondern frag dich, ob du willst“. Und wie ich will.
Ich stehe wieder auf. Ich denke nicht nach – ich handle. Ich soll mich, von den Seilen geführt, nach vorne gleiten lassen, aber ich bin zu hektisch. Ich rutsche ab. Ich falle.
Die Angst ist weg
Ungefähr 30 Zentimeter. Anstatt sanft in der Horizontalen anzukommen, hänge ich wie ein Baby in einer Trage. Autsch, sind diese Gurte fest. Ich korrigiere meine Position und fange an zu laufen, und dabei merke ich: Die Angst ist weg. Das Gefühl der festen Sicherung um meinen Körper hat jedes flaue Gefühl geschluckt.
Nach ein paar Schritten platzt ein lautes Lachen aus mir heraus. Ich kann nicht fassen wie schnell die Angst verschwunden ist. Als hätte sie jemand mit einem Schalter abgestellt. Und dann fällt mir auf, wie schön es hier ist – in den Seilen hängend, hoch über der Stadt.
Ich halte immer wider an, um diese einmalig verrückte Perspektive zu bewundern. Ein Mal wage ich sogar einen Blick in ein Hotelzimmer – das Bett ist aufgewühlt und von der Kante hängt ein roter Spitzen-BH. Ob die Besitzerin wohl so viel Spaß hatte, wie ich gerade?
Ich bin Spider-Woman
Fast unten angekommen, soll ich meine Hände auf die Schultern des vertrauenswürdigen Bodenpersonals legen. Diese wunderschönen Schultern – die Angst ist zwar verflogen, aber froh unten angekommen zu sein, bin ich dennoch.
Ob ich Spaß hatte, fragt Seil-Män, dessen Namen ich im Endorphin-Rausch vergessen habe. Mein fettes Grinsen sagt alles. Ich bin sogar so begeistert, dass ich noch mal den Abstieg wage – ohne zu fallen und mit noch mehr Freudenlachen. Ich bin Spider-Woman – ich bin eine heroische Fassadenkraxlerin. Angst? Pah – was ist das? Hallo Adrenalin!
Wie frisch verliebt
Auf dem Heimweg merke ich, dass meine Wangen leicht schmerzen. Klassischer Fall von Grinsemuskelüberstrapazierung. Das habe ich sonst nur, wenn ich frisch verliebt bin. Und so fühle ich mich auch: aufgekratzt, leicht manisches Lächeln im Gesicht und in Gedanken immer bei meinem Abenteuer.
Ich habe meine Angst überwunden – und es war herzwummernd wunderbar.