Das Gehirn ist ein Despot, sagt Achim Peters. Der renommierte Hirnforscher hat herausgefunden, dass die Schaltzentrale im Kopf auch das Essen steuert und zwar nach dem Motto: “Ich zuerst.” Im Interview erklärt Peters, warum Stress dick und krank macht und weshalb Diäten gefährlich sind.
Achilles Running: Herr Peters, warum haben wir solche Schwierigkeiten, unseren Hunger zu kontrollieren?
Achim Peters: Zu erst einmal sollte es bei diesem Thema nie um Schuld gehen. Übergewichtige Menschen werden ja schnell diskriminiert, weil es heißt: Die sind dick, weil sie willenlos oder charakterschwach sind.
Aber es geht schlicht darum, den eigenen Energiebedarf – und zwar im Gehirn – zu decken, so wie man ein Auto volltankt. Das ist eine ganz nüchterne Frage, die nichts zu tun hat mit Lust oder Willensschwäche.
Wovon hängt es dann ab, ob wir dick oder dünn sind?
Alles geht vom Gehirn aus. Es braucht in jeder Lebenslage Energie. Sobald sein Nachschub geringer wird, löst es Hungergefühle aus, und wir essen.
Das Gehirn ist ein Despot: Es sagt: Ich habe Vorrang vor allen anderen Organen, ich will das Beste für mich. Der Egoismus zeigt sich sogar darin, dass das Gehirn selbst dann Energie in Form von Essen anfordert, wenn die Körperspeicher bereits voll sind.
Wie kommt es dazu?
Das Gehirn ist das einzige Organ, das beim Hungern nicht abnimmt. Wie macht es das? Es aktiviert das Stress-System und zieht Energie aus den Körperspeichern von Leber, Muskeln, Fettgewebe zu ziehen und damit das Gehirn zu versorgen. Das nennt man Brain-Pull.
Das heißt: Wenn man ein intaktes Stress-System hat, bleibt man schlank?
Genau. Menschen mit einem funktionierenden Brain-Pull kann man noch so viel Energie anbieten, die werden nicht dick, weil sie selber nur nach Bedarf essen.
Dauerstress schadet dem Körper
Was läuft bei übergewichtigen Menschen im Kopf falsch?
Wenn das System erkrankt ist, kann das Gehirn keine Energie aus dem Körper bestellen und ist damit in Not, unterversorgt zu sein. Der Plan B heißt dann: essen. Also essen sie mehr.
Das Gehirn ist zwar gut versorgt und dankt mit guten Gefühlen. Der Nachteil: Der Rest der Energie staut sich im Fettgewebe – man wird dick. Oder der Zucker staut sich in den Blutgefäßen, und man bekommt im schlimmsten Fall Diabetes.
Wie kommt es dazu, dass bei manchen Menschen die Energieversorgung falsch läuft?
In der Regel kommen alle mit einem gesunden Stress-System zur Welt. Leider ist es kein Schalter, den man umlegt, sondern eine komplexe Software.
Dieses fein ausgetüftelte Programm stellt für jede Lebenssituation – Schlaf, Prüfung, Essen, Sport – die optimale Energie für das Gehirn bereit. Wenn diese Software aber gestört wird, läuft die Energieversorgung in falsche Bahnen. Der häufigste Auslöser dafür ist Dauerstress.
Was macht chronischer Stress mit dem Körper?
Im Stress braucht das Gehirn mehr Energie. Es gibt zwei Wege, damit umzugehen. Typ A passt sich nicht an, bezieht die Energie bei Stress immer aus dem Körper – und bleibt so dünn. Er hat aber die Gefahr, im Extremfall depressiv zu werden, weil die Überaktivierung des Stress-Systems immer mit schlechter Stimmung einhergeht.
Wenn sich das System aber an den Dauerstress gewöhnt, ist das wie eine Feder, die ausleiert. Typ B bräuchte Energie. Das Stress-System aber hat sich zur Ruhe gesetzt und arbeitet nicht ordentlich. Also zieht man die Energie übers Essen. In der Wissenschaft nennt man dieses Phänomen “Comfort Eating”, tröstendes Essen.
Das heißt, der Stressauslöser ist da, wird aber vom System nicht verarbeitet?
Genau, die Software findet keine Lösungsstrategien. Wer chronischen Stress nicht meistern kann, hat die bittere Alternative: Er wird entweder dick oder depressiv.
Wie merke ich denn, dass mein Gehirn in Versorgungsnot ist?
Man spürt das Adrenalin in Form von Kribbeln und Zittern. Diese Aufregung zeigt, dass das Gehirn Energie anfordert. Wenn das Gehirn anfängt zu sparen, geschieht das immer in der gleichen Reihenfolge: Es schaltet erst mal Körperfunktionen aus, die nicht lebenswichtig sind, zum Beispiel: Wachstum, Wundheilung, sexuelle Lust, bei Frauen das Stillen.
Als nächstes gibt das Gehirn in Not keine Bewegungsbefehle mehr raus; das äußert sich dann in Schwäche. Ganz zum Schluss fallen dann Hirnleistungen aus. Dann gibt’s hier und da Aussetzer, man hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, Sprachschwierigkeiten treten auf, manchmal sieht man quer oder doppelt.
Diäten sind sinnlos und gefährlich
Dieser Sparmodus, also der allmähliche Rückgang der Hirnfunktionen, ist gerade im Sport gut zu beobachten.
Im Sport ist der Deal wie folgt: Das Gehirn bekommt die Glukose, und der Skelettmuskel und das Herz werden mit freien Fettsäuren abgespeist. Wenn jetzt aber ein Läufer mit einer defekten Stress-Software losläuft, wandert die Glukose direkt in die Muskulatur statt ins Gehirn. Die Muskeln nehmen es auf und verbrennen es.
In der Zeit schlägt das Gehirn Alarm und ruft den Entscheidungszentren in der Hirnrinde zu: “Stopp: Es gibt keine weiteren Bewegungsbefehle mehr”. Denn jede weitere Bewegung würde zum Energieabfall im Gehirn führen und damit zur Katastrophe.
Wenn die Motivations- und Bewegungszentren melden: Es geht aus energetischen Gründen nicht, dann spüren wir das, was im Sport oft als –die Wand? bezeichnet wird. Es geht keinen Schritt weiter. Das sind Befehle, die so stark sind, dass man da nicht gegen ankommt.
Diäten setzen die Hungernden so stark unter Stress, dass viele depressiv werden
Beim Sport gibt‘s die Wand, beim Abnehmen heißt es Jojo-Effekt: Es geht einfach nicht vorwärts. Was halten Sie von Diäten?
Es gibt zwei Arten von Abnehmdiäten. Die einen sind kalorienreduziert – FDH: Friss die Hälfte, die anderen reduzieren den Kohlenhydratanteil. Beide haben gemeinsam: Sie enthalten dem Gehirn die notwendige Energie vor.
Das Gehirn muss sich also gehörig anstrengen, um an Energie zu gelangen. Diäten setzen die Hungernden so stark unter Stress, dass viele depressiv werden. Zudem schädigen Diäten die Knochen. Diäten sind nicht nur sinnlos – sie sind gefährlich.
Gibt es einen gesunden Weg abzunehmen?
Ja, den gibt es zwar, aber wichtiger ist, dass wir aufhören Übergewichtige zu stigmatisieren. Das ist für die Betroffenen extrem belastend und führt nur dazu führt, dass sie entweder noch dicker oder depressiv werden.
Das zweite ist: Akzeptanz des Übergewichts. Da würde ich sagen: Nirgendwo einsparen, esst euch satt. Dann ist das Gehirn gut versorgt. Das ist nicht die beste, aber keineswegs die schlechteste Lösung.
Und was sagen Sie denen, die gesund abnehmen möchten?
Für die gibt’s dann nur eins: den Brain-Pull trainieren. Bei einer Studie mit Jugendlichen konnte man zeigen, dass das funktioniert, es ist aber sehr aufwendig. Sport ist ein wichtiges Modul, denn Sport trainiert das Stress-System.
Noch wichtiger aber war: Die Jugendlichen wurden ermuntert, auf ihre eigenen Emotionen zu hören und ihre Bedürfnisse zu formulieren. Danach waren sie tatsächlich weniger depressiv, haben weniger Alkohol getrunken, weniger Drogen genommen, waren weniger shoppen und so weiter. Und nur im Nebenschluss haben sie abgenommen.
Dabei durften sie sich immer satt essen und haben keine Diät gemacht. Die Gefühle und Emotionen spielen also eine bedeutende Rolle beim Abnehmen.
Zur Person: Achim Peters, geboren 1957, ist ein deutscher Hirnforscher. Mit seiner Selfish-Brain-Theorie gewann er viel Aufmerksamkeit und Renommee. Peters hat sein Wissen über “Das egoistische Gehirn” (Ullstein) in dem gleichnamigen Buch zusammengefasst. Er lebt und arbeitet in Lübeck.