Wie ernähre ich mich gesund? Der Ernährungspsychologe Christoph Klotter empfiehlt: vor allem mit mehr Gelassenheit. Ein Gespräch über schlechtes Gewissen, das richtige Bauchgefühl und Essen als sozialen Akt.
Achilles Running: Herr Klotter, was muss ich essen, um mich gesund zu ernähren?
Klotter: Es ist schwierig genau zu sagen, was gesunde Ernährung ausmacht und was nicht. Empirisch belegt ist derzeit nur, dass es gut ist, wenn man abwechslungsreich und viel Gemüse isst. Mehr kann selbst die Wissenschaft nicht sicher sagen, weil viele vermeintliche Erkenntnisse ins Schwanken geraten sind.
Man hat das Gefühl, dass ständig neue Geheimrezepte, Diäten und Ernährungsdogmen auftauchen. Ist das alles gar nichts wert?
Neuen Forschungsbefunden nach verstoffwechseln Menschen sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die eine Tomate essen und einen Anstieg von Insulin zu verzeichnen haben, bei anderen wiederum ist das nicht der Fall. Das ist sehr individuell. Daher können wir nicht sagen, was alle Menschen unbedingt zu sich nehmen sollen.
Wonach sollen wir uns richten, wenn nichts sicher ist – nur nach dem Bauchgefühl?
Wenn jeder für sich herausfindet, was gut für ihn ist, finde ich das fantastisch.
Ich würde vorschlagen, dass man das Essen einreiht in die menschliche Tugend der Sorge um sich. Das heißt: mehr auf sich achten, in sich hineinhören, mit sich selbst experimentieren und schauen, was passiert – mehr Aufmerksamkeit aufs Essen.
“Keine Religion aus dem Essen machen”
Das “richtige Essen” gerät aber leicht zum Stressfaktor.
Klotter: Völlig richtig. Essen darf nicht umschlagen in ein Zwangssystem. Es geht um Achtsamkeit, auch wenn das ein etwas ausgeleierter Modebegriff ist – aber eben mit Gelassenheit. Man braucht kein schlechtes Gewissen haben, wenn man Chips oder einen Burger. Das ist kein Untergang. Mein Vorschlag: Keine Religion aus Essen machen.
Vielleicht sind strikte Regeln aber auch wichtig? Ist gesunde Ernährung wider die menschliche Natur?
Klotter: Die evolutionäre Programmierung sagt: Iss, soviel du kannst, wenn verfügbar. Iss möglichst fett und süß. Unsere Vorfahren mussten zuschlagen, wenn überhaupt etwas da war. Dementsprechend gibt es keine genetische Programmierung für gesunde, maßvolle Ernährung. Es ging nicht darum, was ich esse, sondern dass ich esse.
Unsere Vorfahren hätten mit den Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) nicht überlebt. Abwechslungsreiche Mischkost hätte unsere Spezies zum Aussterben gebracht.
Mit der ausreichenden Ernährung, die es seit 300 Jahren gibt, hat sich die Lebenserwartung dramatisch erhöht – nicht durch die gesunde Ernährung, sondern durch die ausreichende Ernährung. Da muss man deutlich unterscheiden. Die Infektionskrankheiten sind drastisch zurückgegangen, weil wir genug zu essen hatten.
Das ist eine unglaubliche Revolution. Wir wissen gar nicht, wie gut es uns geht. Kurzum: Ausreichende Ernährung ist Pflicht, gesunde Ernährung ist die Kür.
Ist gesunde Ernährung von der Bildung anhängig?
Klotter: Das ist leider so. Wer sozial besser gestellt ist, achtet mehr auf Ernährung, isst abwechslungsreicher und mehr Gemüse. Essen ist von der Sozialschicht abhängig. Dazu muss gesagt werden: Wer Hartz IV bezieht, hat andere Sorgen als die gesunde Ernährung.
“Essen ist ein sozialer Akt”
Ist gesundes Essen eine Geldfrage?
Klotter: Es gibt schöne Untersuchungen vom Forschungsinstitut für Kinderernährung aus Dortmund. Darin wird deutlich, dass ich mit Hartz IV die DGE-Empfehlungen nicht umsetzen kann. Und wenn Sie dazu wissen, wie viel Bioprodukte kosten, dann wir schnell klar: Wer Hartz IV bezieht, macht nicht auf Bio.
Müsste da nicht die Politik eingreifen?
Klotter: Wenn eine Gesellschaft den Anspruch hat, dass gesunde Ernährung für alle möglich sein soll, dann ist die Politik gefragt. Nur: Die kluge Politik mischt sich nicht in Essensangelegenheiten ein. Das mussten schon die Grünen 2013 mit dem “Veggie Day” erleben. Wir Deutsche empfinden Essen als etwas Privates. Da hat sich der Staat möglichst rauszuhalten. Wer das Essverhalten regulieren will, wird schnell als Gesundheitspolizei empfunden.
Wirklich? Ich habe den Eindruck, dass die meisten sehr empfänglich sind für Rezeptvorschläge und neue Diätformen.
Sie haben Recht: Die Gruppe der Ernährungsbewussten wird größer. Die Anzahl der Qualitätsbewussten nimmt zu, der Umbruch derzeit ist eindeutig. Das ist auch der Grund, weswegen Discounter verstärkt auf Bioprodukte setzen. Die Leute schauen mehr darauf, was sie essen.
Einige gucken vielleicht etwas zu genau aufs Essen: Es muss vegan sein, kalorienarm, laktose-, zucker- und glutenfrei – ist das ratsam?
Essen nur auf Inhaltsstoffe zu reduzieren ist totaler Quatsch. Viele Ernährungswissenschaftler schauen wie magnetisch angehaftet auf Inhaltsstoffe und Mengenangaben, haben aber für das Essen als sozialen Akt keinen Blick. In Frankreich zum Beispiel ist das Essen nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern ein soziales Ereignis.
Es geht um das Zusammensitzen und das Reden. Die Franzosen haben zwar durchschnittlich schlechtere physiologische Werte als die Deutschen – aber sie leben länger. Generell gilt das Dschungelbuch-Motto: Probier’s mal mit Gemütlichkeit. Wer das Essen nicht mehr feierlich begeht, dem fehlt etwas.
Zur Person: Christoph Klotter, Jahrgang 1956, ist Ernährungs- und Gesundheitspsychologe, Professor an der Hochschule Fulda, Fachbereich Ökotrophologie und Autor des Buches:
Warum wir es schaffen, nicht gesund zu bleiben: Eine Streitschrift zur Gesundheitsförderung.