Im Frühling spielen die Hormone verrückt? Ein Ammenmärchen! Der Endokrinologe Helmut Schatz erklärt, was es mit den Frühlingsgefühlen wirklich auf sich hat – und was der Geruch von modrigem Laub damit zu tun hat.
Achilles-Running.de: Herr Professor Schatz, die Deutschen haben sehnsüchtig auf den Frühling gewartet. Welche Auswirkungen haben wärmere Tage auf unser Wohlbefinden?
Helmut Schatz: Entscheidend für die sogenannten Frühlingsgefühle ist das Licht, nicht so sehr die Wärme. Wenn die Tage länger werden und das Sonnenlicht intensiver wird, produziert unser Körper weniger Melatonin, ein Hormon, das bei Dunkelheit in der Nacht ausgeschüttet wird und den Wach-Schlaf-Rhythmus bestimmt. Die Menschen kommen mit weniger Schlaf aus und fühlen sich frischer. Zudem steigt das Glückshormon Serotonin.
Viele Menschen haben im Frühling Schmetterlinge im Bauch. Es wird mehr geflirtet. Vor allem Männer scheinen vor Testosteron nur so zu platzen
Viele sind der Meinung, dass die Sexualhormone im Frühling verrückt spielen und deswegen verliebe man sich– das ist ein Ammenmärchen. Die Hormone sind seit Millionen von Jahren reguliert. Die spielen nicht verrückt – auch nicht im Frühling. Die Geschlechtshormone haben nichts mit Verliebtsein und Turteln zu tun.
“Wenn es so riecht, dann kommt der Frühling”
Woher kommen die Frühlingsgefühle dann?
Zunächst einmal ist es ein psychologischer Faktor. Wenn die Natur erwacht, dann erwacht der Mensch. Wir sind ja ein Teil der Natur. Um es mit Herman Hesse zu sagen: ‚Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.’ Immer wenn man etwas neu anfängt, macht man es mit Schwung. Und wenn die Blüten rauskommen, fühlt man sich beschwingt.
Das ist alles?
Dann sind da die optischen Reize: Die Menschen gehen nicht mehr verhüllt in dicken Kapuzenmänteln, sondern leichter bekleidet durch die Straßen. Die Männer schauen den Damen in Miniröckchen gerne auf die Beine und auf den Busen. Die Frauenwelt blickt auf kräftige Männerarme und den knackigen Po – habe ich mir sagen lassen (lacht). Im Frühling sieht man wieder helle, kräftige Farben statt dunkle, braun-grüne Töne. Das führt alles zu positiven Gefühlen
Der Frühling kündigt sich nicht nur über optische Reize an, er hat auch einen eigenen undefinierbaren Geruch. Wieso macht Frühlingsduft gute Laune?
In Eduard Mörikes Gedicht heißt es: ‚Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte; Süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land.’ Das Aroma des beginnenden Frühlings ist aber nicht süß. Es ist der Geruch der schneebefreiten Erde. Gras, Moos und Laub, das modert. Wenn man diese ahnungsvollen Düfte hat, ahnt man nur, dass es wieder bunt und blühend wird. Weil der Mensch diese Gerüche seit der Kindheit im Hippocampus, in tiefen Hirnregionen, abgespeichert hat, weiß er: Aha, wenn es so riecht, dann kommt der Frühling.
Das heißt, Frühlingsgefühle sind sozial gelernt?
Eher von der Natur gelernt. In anderen Ländern erleben die Menschen den Frühling natürlich ganz anders. Oder sie kennen ihn gar nicht, wie zum Beispiel am Äquator, wo es keine Jahreszeiten gibt. Man sagt, dass die europäische Kultur sich so schnell entwickeln konnte, weil die Europäer die Jahreszeiten haben. Jahreszeiten sind ein anregendes Element für kulturelle Leistungen. Man muss Vorratshaltung für Herbst und Winter betreiben oder etwa wetterfeste Häuser bauen, gegen Kälte, Schnee und Eis und nicht nur Laubhütten gegen den Regen.
“Es muss auch mal Regen und schlechte Laune geben”
Ist es nicht erschreckend, dass das Wetter so einen starken Einfluss auf unsere Laune und unseren Körper hat?
Wieso? Ist doch schön. Es gibt ein Volkslied, da heißt es sinngemäß: ‚Wenn es die Nacht nicht gäbe, wär’ der Tag auch nicht schön, wenn es den Regen nicht gäbe, wäre die Sonne nicht schön.’ Es muss auch mal Regen und schlechte Laune geben, Abwechslung ist wichtig.
Diesen Wechsel führen viele Deutsche künstlich herbei, indem sie im Winter in den Süden fliegen um Sonne zu tanken. Schaden Fernreisen dem Hormonsystem?
Nein, das Hormonsystem ist unglaublich robust und auch anpassungsfähig. Bei einem winterlichen Stimmungstief kann es schon helfen, auf diese Weise mehr Sonnenlicht aufzunehmen. Man weiß, dass bei Depressiven der Melatonin-Spiegel hoch ist und Licht einen positiven Einfluss auf die Krankheit hat. Die Patienten setzt man dann in Lichtkammern. Das Problem ist, dass das Licht sehr stark sein muss – 2.000 bis 10.000 Lux. Zum Vergleich: Eine normale Glühbirne hat etwas 50 Lux, ein trüber Wintertag aber bereits 3.000.
Spazierengehen im Winter macht also durchaus Sinn. Stattdessen warten alle auf den Frühling und rennen in die Parks, um zu joggen. Warum haben wir im Frühling mehr Bewegungsdrang?
Zum einen, weil wir weniger Schlafhormon in uns haben und uns aktiver fühlen. Zum anderen steigen die antreibenden Hormone, Adrenalin und Dopamin. Dopamin ist ein Stoff, der den Puls antreibt und uns agiler macht. Wenn wir verliebt sind, geht das Dopamin auch rauf. Viel entscheidender ist aber die Natur. Wenn es hell und trocken ist, drängt man nach draußen und will sich ausleben. Bei Tieren ist es auch nicht anders. Wenn Sie Ihrer Katze die Tür aufmachen und draußen ist es schön, stürmt sie raus. Wenn es schneit und kalt ist, verkriecht sie sich wieder ins Körbchen. Das sind äußere Faktoren – das hat mit Hormonen direkt nichts zu tun.
Interessanterweise stellt sich aber auch die Frühjahrsmüdigkeit ein. Was passiert da hormonell?
Es gibt nur wenige, die eine echte Frühjahrsmüdigkeit haben. Das Phänomen wird ein wenig hochgespielt. Vielfach sind es depressive Stimmungslagen, die dann rauskommen, wenn im Frühling alle rausgehen und gut gelaunt sind. Man weiß nicht mal genau, was eine Frühjahrsmüdigkeit tatsächlich ist oder woher sie kommt, sie spielt auf jeden Fall keine große Rolle. Es mag ein Überhang an Melatonin aus der dunkleren Zeit sein. Dann sollte sie nach ein bis zwei Wochen wieder weg sein. Sonst wird vielleicht jetzt eine unterschwellige Depression offenkundig. Mein Tipp: Einfach rausgehen, sich im Freien bewegen und den Frühling genießen.
Zur Person: Prof. Dr. h.c. Helmut Schatz, Jahrgang 1937, ist Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE), Hormone und Stoffwechsel. Der Österreicher ist emeritierter Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Bergmannsheil der Ruhr-Universität Bochum und passionierter Wintersportler.