Seit den Protesten um den Tod des Afroamerikaners George Floyd hat sich politisch schon einiges getan. Jetzt denkt sogar das International Olympic Commitee (IOC) darüber nach, politische Botschaften bei den Olympischen Spielen zuzulassen. Besser spät als nie, argumentiert unsere Redakteurin Anna und fordert, dass Athlet*innen ihre Meinung auch im Stadion vertreten dürfen.
Der ausgestreckte Arm, die im schwarzen Handschuh zur Faust geballte Hand und der gesenkte Kopf, zwei Olympioniken auf einem Podest – das Bild von Tommie Smith und John Carlos während der Siegerehrung der Olympischen Spiele 1968 ist zu einem Symbol des politischen Protests weltweit geworden. Mit dem sogenannten “Black Power Salute” machten die beiden Sprinter, im Jahr der Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King Jr., auf die die Unterdrückung und Diskriminierung schwarzer Amerikaner*innen in den USA aufmerksam. Der friedliche Protest wurde vom IOC jedoch als Bruch seiner Prinzipien gewertet und hart bestraft.
Harte Strafe für politischen Protest
Damals stellte das Olympische Komitee den amerikanischen Verband vor die Wahl: Entweder Smith und Carlos werden nach Hause geschickt, oder die komplette Mannschaft wird vom Wettbewerb ausgeschlossen. Die Konsequenz: Beide Athleten wurden suspendiert und lebenslang von den Olympischen Spielen ausgeschlossen. Das Ende zweier sportlicher Karrieren.
IOC stellt Regel 50 der Olympischen Charta in Frage
Seit dem Protest von Smith und Carlos sind inzwischen über 50 Jahre ins Land gegangen. An der Einstellung des IOC hatte sich bis zuletzt nicht viel geändert. Die Regel 50 der Olympischen Charta verankert das Verbot politischer und religiöser Zeichen und Demonstrationen – bis es in den vergangenen Wochen zu den Massenprotesten gegen Rassismus in den USA kam, die die ganze Welt ergriffen.
Am vergangenen Mittwoch hat das IOC nun zum ersten Mal diese Regel in Frage gestellt. IOC-Präsident Thomas Bach hatte in einer Pressekonferenz Rassismus verurteilt und lässt eine Kommission aus Athlet*innen Vorschläge ausarbeiten, wie Formen von politischer Meinungsäußerung bei den Spielen aussehen könnten.
Das ist überraschend. Das IOC hatte noch im Januar als Reaktion auf die zunehmenden Proteste bei Sportveranstaltungen einen Leitfaden herausgegeben, in dem vieles, u.a. das Heben einer Faust oder Hinknien aus politischen Motiven explizit verboten wurden.
Ob Sinneswandel oder ein zu spätes Eingeständnis sei dahingestellt. Es ist an der Zeit endlich die angebliche Neutralität der Spiele zu hinterfragen. Denn – Achtung: unpopuläre Meinung – die Spiele waren schon immer politisch.
Die Spiele waren schon immer politisch
Das ist offensichtlich, überfliegt man die olympische Geschichte. Politische Gesten wurden zum Beispiel im Jahr 1936 toleriert, als Adolf Hitler die Spiele als Propagandamaschine nutze und Gewinner*innen den Hitlergruß ungeahndet auf dem Podium performten.
Auch wurden sie als machtpolitisches Druckmittel gebraucht. Während des Kalten Kriegs, boykottierten die Amerikaner*innen die Spiele in Moskau (1980) – eine Reaktion auf die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan, der sich Japan, Westdeutschland, China, die Philippinen und Kanada anschlossen. Daraufhin revanchierte sich die Sowjetunion 1984 und blieb den Spielen in Los Angeles fern.
Aber auch die Vergabe der Spiele kann eine politische Entscheidung sein. Als Peking für die Spiele 2008 zum Austragungsort gewählt wurde, ignorierte das IOC dabei die Annektierung Tibets und unterstützte sie so implizit. Als sich daraufhin eine tibetische Mannschaft zusammenfand, versteckte sich das IOC hinter der Aussage, dass Tibet teilnehmen könne, sobald es von der internationalen Gemeinschaft anerkannt sei.
Neutralität ist politisch
Es gibt noch andere Beispiele, aber das sollte schon reichen um klarzustellen, dass die Spiele bereits ein Politikum sind. Soll heißen, die Olympischen Spiele werden nicht erst durch Botschaften von Sportler*innen politisch. Trotzdem werden solche Botschaften meist erst dann durch den IOC thematisiert, wenn sie von den Athlet*innen selbst kommen. Warum ist das so? Warum das ständige Pochen auf Neutralität seitens des IOC und die Forderung man solle die Spiele nicht politisieren, wenn sie das schon lange sind?
Auch die Forderung nach Neutralität ist irreführend. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass eine neutrale Position unpolitisch ist. Aber Neutralität ist politisch. Sie stabilisiert den Status quo, indem sie suggeriert, dass sich nichts ändern muss. Wie schon der Menschenrechtler Desmund Tutu sagte „If you are neutral in situations of injustice, you have chosen the side of the oppressor” (Deutsch: Wenn du dich neutral gegenüber Ungerechtigkeit positionierst, dann hast du die Seite der Unterdrückenden gewählt.“).
„If you are neutral in situations of injustice, you have chosen the side of the oppressor.”
Desmund Tutu, Menschenrechtler
Sportler*innen sind Vorbilder – lasst sie das sein!
Mit der Regel 50 zwingt das IOC also Athlet*innen bisher im Namen der Neutralität die eigenen Überzeugungen abzulegen. Das widerspricht den olympischen Werten, zu denen auch der Schutz der Würde des Menschen, soziale Verantwortung und der Respekt vor universellen ethischen Prinzipien gehören. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, auch in Form von politischen Botschaften und Protest, sollte nicht im Namen des Sports abgetreten werden müssen.
Athlet*innen, die für Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Fairness öffentlich einstehen und dabei sogar die Verhältnisse im eigenen Land kritisieren, müssen ernst genommen werden. Sie sind Vorbilder. Sie inspirieren, machen uns Mut und zeigen, dass wir mit viel Fleiß und Arbeit alles erreichen können. Warum nicht auch eine gerechtere Welt?
Es ist also Zeit, die Regeln zu ändern. Besser spät als nie.