Ganz Deutschland will entschleunigen, aber schafft es nicht. Der Sofasportverein zu Berlin lädt zum Chips-Wettessen. Sein Ziel: dem extremen Leistungsgedanken in Sport und Job entgegenwirken.
Ein Besuch: Vor der Bar rauchen zwei junggebliebene Mitdreißiger einen Joint in einer Ecke. Passt ins Klischeebild. Denn: Ich bin zum Sofasport verabredet. Richtig, Sofasport. Körpererziehung auf dem samtüberzogenen Kanapee. Leibesübungen für die Generation Netflix. Haben faule Langzeitstudis, unmotivierte Kiffer*innen und dicke Couchpotatoes endlich ihren Sport gefunden?
“Wir hängen nicht einfach ab”, sagt Torben Bertram, Gründer des ersten deutschen Sofasportvereins. “Wir sitzen aktiv und achten auf unsere Körperbewegungen. Guck, ich mach mal die Rakete.” Bertram hockt auf einem Retro-Sofa in einer szenigen Bar mit leise wummernden Elektrobeats in Berlin-Friedrichshain und patscht in Kindergartenmanier mit offenen Handflächen auf seine Oberschenkel.
Plötzlich springt er auf: “Huiiii!” Bertram wirft die Hände in die Höhe. Discokugeln werfen im gedimmten Licht bunte Punkte auf seinen Körper. Aktiv sitzen, das klingt nach einer scharfsinnigen Dummheit, denke ich mir – und weiß spätestens seit der Rakete wirklich nicht, was ich von Darbietung und Szenerie halten soll.
Gegenpol zur Gesellschaft der Selbstoptimierung
Bertram – in der Mitte seines Lebens, zwei Kinder, arbeitet in der politischen Kommunikation – trägt Jeans, Städtereisen-Wandersneakers und ein zu enges Fahrradtrikot, das am Bauch spannt.
Er ist weder hoch noch breit genug gewachsen, um aufzufallen. Mittelgroß, mittelkräftig, mittelbeleibt. Kategorie: gesellig und unscheinbar. Bewegung abseits der Couch ist nicht so sein Ding.
Den Sofasportverein gründete er im März 2017, weil er nicht mit den Arbeitskolleg*innen in der Mittagspause ins Fitnessstudio wollte.
Jetzt sitzt Bertram etwas im Sofa versunken und trommelt, die Hände zu Fäusten geformt, gemächlich auf seine Brust. Anhand seines trockenen Gesichtsausdrucks begreife ich, dass er die Übung ernst meint. Faszinierend. Erkennt der Sofatarzan in mir seine Jane und will mir imponieren? Wo bin ich hier nur gelandet?
“So sieht unser Training aus: Mit Ruhe, Spaß an einfachen Bewegungen in geselliger Runde und dem bewusst Körperlichen formen wir einen Gegenpol zur Gesellschaft der Selbstoptimierung.”
Auch Bierglas-Halten und Chips-Wettessen sind Übungen der Gruppe, die mittlerweile rund 20 Mitglieder umfasst. Die teils besorgten Blicke der Tischnachbar*innen nimmt Bertram gerne in Kauf. Eines seiner Ziele ist, der Leistungsgesellschaft den Spiegel vorzuhalten: “Man soll beim Sport nicht immer irgendwas leisten, schön aussehen oder fit sein müssen.”
Die einfachste Übung, der klassische Sitzer
Zur Ruhe kommen. Entschleunigen. Alle streben danach, aber kaum einer schafft das noch in Zeiten dauerhafter Erreichbarkeit. Ich versuche mich an der einfachsten Übung, dem klassischen Sitzer. “Nicht zu gerade sitzen”, mahnt Bertram. “Lass das Fleisch ruhig erschlaffen und konzentrier dich auf deinen Körper.”
Nichts leichter als das, ich kann doch auch sonst gut das Fleisch ruhen lassen. Denkste. Schon nach einer Minute will ich zum Handy greifen. Zur Ruhe kommen? Okay, aber dann bitte fix. Die Nerven herunterfahren? Puh, geht das nicht schneller? Jetzt mach mal, Entschleunigung. Ich hab ja nicht ewig Zeit. Müßiggang und das süße Nichtstun sind heutzutage schwieriger als so mancher Marathonlauf.
“Die meisten Leute sitzen nur als Nebenbeschäftigung. Wir sitzen bewusst. Wir spüren unsere Körper, fahren das System herunter und nehmen Abstand vom Leistungsgedanken”, erklärt Bertram. Sofasport ist so hirnrissig, dass ich langsam Gefallen an der Idee dahinter finde. Denn: Unsere Gesellschaft ist sportkrank.
“Wir sollten eine gute Beziehung zu unserem Sofa pflegen”
Klar, übergewichtige Kinder, Mamas, Papas, Omas und Opas wird das reiche Deutschland weiterhin hervorbringen. Aber ein bisschen Laufen ist vielen heute als Sport nicht mehr genug.
Es muss ein cooler Laufklub mit noch cooleren Läufer*innen-Kumpels sein, mit denen man “Kilometer ballert”. Der Wunschtraum: körperlich und physisch topfit. Gesund ist das oft nicht mehr. Und wo bleibt der Spaß?
“Der Sofasportverein ist eine Alternative zu ‘Höher, schneller und weiter’ – nicht nur im Sport, sondern auch im Job. Zu immer mehr Überstunden. Zu der Gier nach Boni und Beförderung”, sagt Bertram.
Entschleunigung, Müßiggang und Geselligkeit drohen auszusterben. Wir arbeiten zu viel, versinken immer mehr hinter etwaigen Bildschirmen, meiden soziale Kontakte im realen Leben.
Von der Rakete bin ich immer noch nicht ganz überzeugt. Aber ein geselliges Sofabierchen, um Stress abzubauen und herunterzufahren, kann in der heutigen Leistungsgesellschaft nicht schaden.
“Wir sollten eine gute Beziehung zu unserem Sofa pflegen, schließlich verbringen wir viel Zeit darauf”, sagt Torben Bertram und tätschelt den blauen Stoffbezug. “Er ist wie ein guter, alter Kumpel.”
Wider die Fitnesssucht, die in Deutschland bis zum Burnout grassiert, wider das gesellschaftliche Ideal der ultrafitten, schönen und erfolgreichen Menschen, wider die Stromlinienförmigkeit: Deutschland braucht mehr Sofas.