Von Edith Zuschmann
In Berlin und Köln hat es sich wieder gezeigt: Die Kenianer*innen laufen allen davon. Das war jedoch nicht immer so. Achilles-Running-Autorin Edith Zuschmann hat Gabriele Rosa getroffen – den Mann, der Kenia das Marathonlaufen lehrte.
Paul Tergat, Martin Lel, Samuel Wanjiru, Robert Cheruiyot, James Kwambai und viele mehr. Sie alle gingen schon oftmals die Schotterstraße hoch, die vor einer unauffälligen, zweistöckigen Villa mit atemberaubendem Blick auf den italienischen Lago d’Iseo endet. Hier traten sie ein in das Ufficio Centrale von Dottore Gabriele Rosa – jenem Mann, der Kenia das Marathonlaufen lehrte.
Sein Büro in der Nähe von Brescia ist die Kommandozentrale für seine kenianischen Spitzen-Athlet*innen, die zahlreichen Talente, aber auch seine Trainer*innen und Partner. Von hier aus hat alles begonnen. Seine medizinische Karriere wie auch sein Trainerdasein.
“Vor etwa 40 Jahren begann ich, Läufer*innen aus Iseo zu trainieren, ehe ich Ende der 1970er Jahre Gianni Poli, einen jungen aufstrebenden Burschen, traf. Nach wenigen Jahren unter meinen Fittichen lief er 1981 italienischen Rekord, fünf Jahre später gewann er den New York City Marathon”, erzählt der Lombarde mit dem weißen Vollbart.
“Die Kenianer fürchteten sich vor dem Marathon”
Gleichzeitig baute er in Brescia eines der namhaftesten Marathon-Zentren Europas auf. Sein Wissen und Können sprach sich rasch herum und so stand eines Tages der kenianische Läufer Moses Tanui mit Knieproblemen in seiner Praxis. Dottore Rosa half und Tanui heuerte ihn als Trainer an. Bis dahin waren Tanuis Erfolge bescheiden gewesen, dann arbeitete er ein Jahr mit Rosa und gewann 1991 den Weltmeisterschafts-Titel über 10.000 Meter. Nach diesem durchschlagenden Erfolg bat Moses “seinen” Dottore Rosa, nach Kenia zu kommen. Er stimmte zu und brachte seine Trainingsmethoden nach Afrika.
“Als ich 1991 nach Kenia kam, gab es ausschließlich Cross- und 10.000- Meter-Läufer. Mit Marathon wollte niemand etwas zu tun haben. Die Kenianer fürchteten sich regelrecht davor. Sie meinten, Marathon zu laufen, würde ein rasches Ende ihrer Laufkarriere herbeiführen, ja sogar Impotenz auslösen”, erklärt Rosa.
Doch er sah die unglaubliche Anzahl an jungen Talenten, die das Zeug zu Marathonsieger*innen hatten. Und er überlegte und handelte. Er rief das Projekt “Discovery Kenia” ins Leben, um Talente zu selektieren und ihnen durch Schulbildung und Trainingsinfrastruktur den Weg zu Spitzen-Läufer*innen zu ebnen.
“Sie lieben es, den anderen zu zermürben”
Mittlerweile sind 18 Jahre vergangen, das Konzept ging auf. “Jährlich kommen im Januar bis zu 600 junge Läufer aus ganz Kenia zum mittlerweile bekanntesten kenianischen Halbmarathon und dem Cross-Lauf in die Stadt Eldoret im Westen Kenias. Die beiden Rennen ermöglichen mir ein perfektes Casting junger Talente für die Langstrecke”, führt Dr. Rosa aus.
Martin Lel oder Robert Cheruiyot sind nur zwei von vielen, die er dort entdeckte. Doch Selektion allein genügt nicht. “Um aus ihrem Potenzial mehr zu machen, erachtete ich es als notwendig, ihr Leben zu organisieren. Ich musste sie zu Profis machen”, so Rosa damals.
Die Idee des ersten Training-Camps war geboren. 1994 mietete er mit finanzieller Unterstützung aus der Industrie, 20 Kilometer von Eldoret entfernt, ein spartanisch eingerichtetes Hotel für seine Athlet*innen an. Auf etwa 3.000 Meter Höhe, inmitten des Rift Valley, unterwarfen sich die Sportler*innen mehrere Monate einfachen und zugleich klaren Regeln – fernab von ihren Familien und ihrem sonstigen Komfort: zweimal pro Tag Lauftraining, dazwischen Regeneration und ein großes Augenmerk auf die richtige Ernährung. Um aus den Talenten Sieger*innen zu machen, sah der Mediziner aber bald ein, dass er sein Wissen über Marathontraining an die kenianische Mentalität anpassen musste:
“Das individuell ausgerichtete Training, so wie es sich in Europa eingebürgert hatte, war für Kenianer zu wenig. Ich erkundete ihre Laufmentalität und erkannte, dass sie sich durch das Laufen in der Gruppe gegenseitig antreiben. Ich begann das Gruppentraining als progressive Laufeinheit zu gestalten. Ein Ansporn für die jungen Talente, um an die Schnellsten heranzukommen und eine laufende Herausforderung für die Stars, sich von einem mittleren Lauftempo in höhere Geschwindigkeiten hineinzusteigern.” Er lacht und sagt: “Sie lieben es, den anderen zu zermürben.”
Rosas Trainingsstrategie zeigte Wirkung. 1996 gewann Moses Tanui seinen ersten Boston-Marathon. Der Siegeszug der kenianischen Marathonelite hatte dank Gabriele Rosa begonnen, der Erfolgshunger einer jungen Generation war geweckt. Das Hotel wurde zu eng, das erste “Rosa & Associati Group Trainings-Camp” in Eldoret mit Wohn- und Trainingsmöglichkeiten für die Athlet*innen entstand.
Weitere folgten an unterschiedlichen Orten, dort, wo sich besonders viele Talente tummelten. Heute betreibt Rosa mit seinem Sohn und Athlet*innen-Manager Frederico fünf Camps, in denen jeweils 20 Athlet*innen untergebracht sind. “Vor einem Training stoßen oft nochmals 20 weitere Läufer aus der Umgebung dazu, um mit den Stars mitzulaufen”, berichtet Rosa.
Aufbau des Camp-Systems hat gefruchtet
“Eigentlich ist es ganz einfach, zukünftige Lauf-Champions zu erkennen: Sie sind im Stande, über eine längere Zeitperiode die hohe Trainingsbelastung gut zu verkraften und sich dabei nicht komplett zu verausgaben”, verdeutlicht Rosa.
“Unser Training durchzuhalten, ist hart, verdammt hart. Fernab von der Familie, in einem spartanischen Camp, wo es Tag für Tag darum geht, sich gegenüber den anderen aufstrebenden Läufern zu behaupten. Wer das durchzustehen vermag, holt sich eine unglaubliche mentale Härte.” Und mit dieser Härte, hat auch Rosa erkannt, lassen sich unzählige Erfolge erzielen.
“In den knapp 20 Jahren gewannen meine Athlet*innen 35 Mal bei den fünf größten Rennen, stellten sieben Weltrekorde auf und siegten bei internationalen Meisterschaften. Doch die Erfolge sind das eine. Für mich zählt, dass ich einen erheblichen Teil zur Entwicklung des Marathonwunders Kenia beigetragen habe. Die Talentförderung und der Aufbau des Camp-Systems haben gefruchtet und werden heute nicht nur in Kenia, sondern überall auf der Welt übernommen.” Die geschlossenen Freundschaften und die zahlreichen gewonnenen Erfahrungen seien für ihn die größten Schätze. “Ich habe weit mehr von Kenia bekommen, als ich gegeben habe”, meint er bescheiden.
Als Mittsechziger ist Dottore Rosa aber noch lange nicht müde – im Gegenteil. Nach wie vor hält er seine Hand über die Trainingsstrategien, die er mit seinen Trainer*innen in den Camps täglich abspricht – und rund sechsmal pro Jahr schlägt er seine Zelte in Kenia auf, um seine Schützlinge auf Meisterschaften vorzubereiten oder Nachwuchs zu sichten.
Aber auch seine Arbeit als Arzt liegt ihm sehr am Herzen: “Laufen muss nicht zwangsläufig mit Spitzensport zu tun haben, es trägt wesentlich zur Erhaltung der Gesundheit bei. Derzeit baue ich ein neues Gesundheitspräventionsprojekt hier in Italien auf, um unsere Zivilisationskrankheiten wie Diabetes in den Griff zu bekommen”, verkündet Rosa und greift wieder zum klingelnden Handy, um dem chinesischen Frauennationalteam Anweisungen zu geben. Denn dieses Team hat er seit Januar 2010 auch unter seinen Fittichen.