Charlie Engle war alkohol- und drogenabhängig. Heute ist der 55-jährige US-Amerikaner einer der besten Ultraläufer der Welt. Ein Gespräch über Sucht, Komfortzonen und Selbsterkenntnis beim Laufen.
Achilles Running: Herr Engle, haben Sie schon mal Strandurlaub gemacht?
Charlie Engle: Oh nein! Ich verstehe überhaut nicht, was daran toll sein soll, am Strand herumzuliegen.
Achilles Running: Zur Entspannung vielleicht?
Engle: Ich relaxe auch gerne, aber ich verstehe nicht, dass Menschen ihr Leben damit verbringen, alle möglichen Arten von Bequemlichkeiten zu finden.
Für mich ist Komfort überbewertet. Niemand hat je etwas in seiner Komfortzone gelernt. Ich gehe lieber ein Risiko ein und erfahre in einem Ultralauf in wenigen Stunden die komplette Gefühlspalette: von total super bis ganz mies.
Täglich zwei Marathons
Achilles Running: Bei ihrem Lauf durch die Sahara vor rund zehn Jahren sind Sie mit zwei Partnern über 111 Tage täglich zwei Marathons gelaufen, insgesamt fast 7000 Kilometer. Das ist nicht nur ein bisschen Risiko, das war sehr extrem.
Engle: Ja, das war es. Viele fanden sogar, es sei eine ausgesprochen dumme Idee. In diesen Monaten bin ich jeden Tag aufgewacht mit dem Gedanken: Es ist unmöglich. Aber Ultralaufen ist zu 90 Prozent mental, die anderen zehn Prozent sind in deinem Kopf (lacht). Aber wir haben es geschafft und es hat sich mehr als gelohnt.
Wenn alle Gründe dagegen sprechen und man es trotzdem durchzieht, dann sind das die Erfahrungen, von denen wir später erzählen. Außerdem ist aus der Aktion für “H20 Africa” von Matt Damon später “Water.org” entstanden, eine Non-Profit-Organisation, die weltweit für sauberes Wasser sorgt.
Das ist sehr befriedigend. Die besten Storys sind immer über Momente, in denen man zu scheitern droht.
Achilles Running: Wie kamen Sie zum Laufen?
Engle: Laufen hat mein Leben gerettet. In meinen Zwanzigern war ich alkohol- und drogenabhängig. Als ich 29 war, kam mein erster Sohn zur Welt und ich wollte am Leben bleiben.
Nach einem Treffen der Anonymen Alkoholiker habe ich mir Laufschuhe angezogen und bin joggen gegangen. Danach bin ich drei Jahre lang jeden Tag laufen gewesen.
Und dann wollte ich es weiter treiben und schauen, wie weit ich komme: Irgendwas hat mich gereizt, 50, 100, 1000 Kilometer zu laufen. Ich wollte schauen, wie ich mich fühle.
“Ich will den Schmerz spüren”
Achilles Running: Und jetzt sind Sie süchtig nach dem Laufen?
Engle: Vielleicht. Der entscheidende Unterschied aber ist: Als Süchtiger habe ich mich vor allem versteckt. Mein Ziel war es, keine Gefühle zu spüren. Ich wollte unsichtbar sein. Als Läufer gibt es kein Verstecken. Wenn du hundert Kilometer am Stück läufst, fühlst du alles: gut und schlecht.
Wenn ich einen Lauf habe, antizipiere ich den Moment, an dem ich aufhören will. Ich will zu diesem Punkt kommen: leer, nichts mehr übrig, und dann finde ich trotzdem einen Weg weiterzumachen.
Achilles Running: Sie laufen bewusst in die schmerzhafte Zone: Wollen Sie sich für etwas bestrafen?
Engle: Vielleicht will ich den Schmerz spüren und so eine Art Wiedergutmachung betreiben, aber das Faszinierende ist: Ich sammele immer auch neue Erkenntnisse über mich. Erst dachte ich, dass ich meine Suchtanteile ablegen muss. Dann habe ich verstanden, dass es meine Veranlagung ist, die mich zu einem guten Läufer macht.
Achilles Running: Sie waren 16 Monate unverschuldet in Haft, aber selbst das hat Sie nicht vom Laufen abgehalten.
Ja, eines meiner Lieblingsrennen ist der “Badwater Ultramarathon” im Death Valley in Kalifornien. Da ich nicht mitmachen konnte, entschied ich mich am selben Tag des Rennens dieselbe Strecke in dem kleinen Gefängnishof zurückzulegen. 540 Runden bin ich gelaufen.
Um mich nicht zu verzählen, habe ich nach jeder Runde einen Kieselstein von einem Haufen auf den anderen gelegt: Die anderen dachten, ich sei verrückt. Im Gefängnis ist auch mein Spitzname entstanden. Einer der Insassen nannte mich “Running Man”.
“Du musst rausgehen und die Welt erleben”
Achilles Running: Sie gehen permanent an Ihre körperlichen und mentalen Grenzen – ist das nicht ungesund?
Engle: Ja, manchmal schon, aber gefährlich ist es nicht. Mittlerweile bin ich ein erfahrener Läufer. Ich weiß ungefähr, was ich durchmachen werde. Und wenn die Stimme im Kopf sagt “Hör auf!”, sage ich mir “Fuck You!” (lacht). Es ist ein Kampf in meinem Kopf und in meinem Körper.
Wenn ich mich schlecht fühle, liegt es meist daran, dass mir Brennstoff fehlt. Dann muss ich essen oder trinken, dann geht’s wieder.
Achilles Running: Was ist Ihr nächstes Ziel?
Ich will vom Toten Meer zum Gipfel des Mount Everest laufen. Vom niedrigsten zum höchsten Punkt der Erde. Das ist eine gute Metapher für mein Leben. Kein Geld der Welt ersetzt die Erfahrungen, die du machst. Du musst rausgehen und die Welt erleben.
Zur Person: Charlie Engle, Jahrgang 1962, ist einer der bekanntesten Ultraläufer der Welt. Bekannt geworden ist der US-Amerikaner durch die Dokumentation “Running the Sahara”, produziert von Matt Damon. Seinen Werdegang hat Engle in seinem Buch Running Man: Ein Ultralauf zurück ins Leben zusammengefasst.