Warum trainieren Menschen in einem Boutique-Fitnessstudio? Und was ist das überhaupt? Unsere Redakteurin Anna hat es versucht – und hat sich eine ordentliche Portion Muskelkater beim HIIT-Training geholt.
Ich betrete einen fensterlosen, in schummrig rotes Licht getauchten Raum. Es gibt zwei Trainingsflächen. Links von mir erstreckt sich eine Spiegelwand, vor der sich fünfzehn breite Laufbänder säuberlich aneinanderschmiegen. Auf der rechten Seite stehen drei Reihen mit jeweils fünf, etwa kniehohen Kästen, die sich mit einem Abstand von etwa zwei Metern ans Ende des Raums ziehen. Schaut man genauer hin, erkennt man, dass die Kästen mit Hanteln, Medizinbällen und Kettlebells – den Metallkugeln mit dem Griff – gespickt sind. Über mir winden sich dicke Rohre an den Wänden entlang, die den Industrie-Look abrunden. Irgendwoher dröhnt lauter Rap und lässt meinen Brustkorb im Beat mitwummern.
Sollte ich den Raum als Filmset beschreiben, ginge das so: Fight Club trifft auf American Psycho. Der Trainingsraum erinnert mich jedenfalls mehr an einen Untergrundclub als an ein Gym. Anders gesagt, er wirkt, als hätten die Architekt*innen des Berghains einen Fitness-Club designt.
Ich stehe in kurzer Hose, Laufshirt und nagelneuen Laufschuhen auf dem gummiartigen Boden des angesagten Londoner Boutique-Fitnessstudios „Victus Soul“. Eigentlich bin ich hier, weil die Schweizer Laufschuhmarke On Running zum Launch des neuen Cloudflows eingeladen hat. Neugierig war ich vor allem, weil der Schuh beim HIIT-Training vorgestellt wird. Ich habe bisher weder ein “High Intensity Intervall Workout“ gemacht, noch jemals On-Schuhe getragen, geschweige denn im Boutique-Fitnessclub trainiert. Also war ich dementsprechend gespannt auf das Event.
Was ist Boutique Fitness?
Aber was ist eigentlich Boutique Fitness? Natürlich kommt der Trend aus den USA. Seit einigen Jahren zieht er in Metropolen wie London, Berlin, Paris und Amsterdam ein. Charakteristisch für diese Fitness-Clubs sind das exklusive, sehr stylische Ambiente und die kleinen Kurse. Oft bieten sie an: Barre (an Ballett angelehntes Fitness-Training), Boxen, Spinning oder HIIT-Training für eine erlesene Anzahl von Kursteilnehmer*innen. Vier 50-minütige Einheiten kosten bei „Victus Soul“ knapp 70 Euro. Persönlich ist mir das zu teuer.
Ich schnüre mir gerne die Laufschuhe und genieße die frische Luft unter freiem Himmel. Aber gerade in einer Großstadt wie London ist so ein Studio auch eine beliebte Alternative zu den Asphaltstraßen, die sich durch die Stadt schlängeln.
Fitnessbegeisterte und Läufer*innen trainieren hier allerdings nicht nur, weil sie Abwechslung suchen. Sie kommen auch wegen der typischen Lounge-Areas, die an Berliner Hipster-Cafés erinnern. Hier kann man nach dem Training ausspannen, abhängen, networken und dabei Cappucini oder Eiweiß-Shakes schlürfen. Ich muss gestehen, dass ich mich besonders auf einen dieser Shakes freue, den ich vor dem Training bereits an der Bar im Eingangsbereich bestellen konnte, und der später angeblich auf mich wartet.
Boutique Fitness: Mehr als nur Training – “It’s a Lifestyle”
Aber ist der Boutique-Hype wirklich mit einer Kaffee- und Shakebar zu erklären? Natürlich nicht. Hinzu kommt ein geschicktes Marketing, das Mitgliedern mehr als nur Fitness verspricht. “Victus Soul” beispielsweise setzt auf den Slogan „Conquer Your Journey“ (deutsch: Erobere Deinen Weg). Dieses Credo wird auch auf ihren Social-Media-Kanälen gezielt mit den dazugehörigen Hashtags verteilt. Die Mitglieder sollen ihre Stories teilen und den Fitness-Lifestyle promoten.
Es sind genau diese Marketingparolen – irgendwas zwischen Mantra und Kalenderspruch –, an denen sich die Geister scheiden. Meine zumindest.
Für die einen ist so ein Motto wie “Conquer your Journey” – übrigens typisch für Boutique-Fitnessunternehmen – pure Motivation. Sie arbeiten gerne an sich, optimieren, wo sie können. Der Reiz liegt in der kollektiven, auf Social Media teilbaren Erfahrung. Anders gesagt: Boutique-Fitness-Anhänger*innen fühlen sich als Teil von etwas Größerem. Hier zu trainieren bedeutet für sie auf dem richtigen Weg zu sein.
Für mich wirkt der fast schon religiös anmutende Unterton solcher Slogans, die auf aktionsgetriebene Verben setzen – EROBERE! – wie ein penetranter Vorwurf. Das „Your“ ist wie ein Fingerzeig, der suggeriert, dass das, was man tut, noch lange nicht gut genug ist – man sich also auf dem falschen Weg befindet.
Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass es einen Grund gibt, weshalb ich noch nie HIIT-Training probiert habe: Selbstoptimierung ist nicht so mein Ding. Aber ich habe mich überwunden, auch aus Selbsterfahrungsgründen, es mal zu versuchen. Wer weiß, vielleicht ist HIIT wirklich der Hit, und ich war bislang nur auf dem falschen Pfad.
Kurzum: Ich bin gespannt auf die heutige „HIIT-and-Run-Class“. Ganz vielleicht liegt das am versprochenen Eiweiß-Shakes. Aber nur vielleicht.
HIIT & RUN mit Trainerin Tig
Inzwischen hat sich der Raum mit weiteren Teilnehmer*innen gefüllt, die sich um unsere Trainerin Tig scharen. Kurz bevor sie anfängt uns einzuweisen, geht mir durch den Kopf, dass im Englischen „Hit and Run“ eigentlich Fahrer*innenflucht heißt. Ob Tig mich gleich sprichwörtlich überfährt? In ihren hautengen schwarzen Tights, den muskulösen Oberarmen, ihrem entspannten Gesichtsausdruck, akzentuiert durch ihren lockigen Undercut, sieht sie aus wie eine waschechte Superheldin.
Oder wie einer dieser übermotivierten Menschen, die einen Marathon laufen und danach im Ziel noch 100 Liegestütze machen. Just because she can, versteht sich.
Vor dem Training hatte ich kurz Zeit mit Tig zu sprechen und ihr gestanden, dass ich ein bisschen Angst habe. Dabei habe ich an die letzten Monate gedacht, in denen ich es kaum geschafft habe, regelmäßig laufen zu gehen. Tig hat mich mit ihrem warmen Lächeln angestrahlt: „It’s going to be fun – just enjoy this little session“ (deutsch: Das wird lustig – genieß einfach die kleine Einheit). Little session? Na hoffentlich.
Mir ist trotzdem noch etwas mulmig. In dunklen Räumen fühle ich mich immer etwas orientierungslos. Ich verliere leichter das Gleichgewicht. Stolpere schneller. Meine Alarmglocken sind also schon vor dem Training an.
Kurze Einweisung und los geht’s
Irgendjemand drückt mir einen länglichen Tetrapak-Karton in die Hand, auf der „Water“ steht. Tig spricht ruhig in ihr Mikro. Ihre Stimme wird in fünfacher Lautstärke über die Boxen transportiert und mischt sich mit der wummernden Musik zu einem dröhnenden Mix.
Wir sollen uns aufteilen. Die Hälfte der Teilnehmer*innen fängt auf dem Laufband an, die andere baut sich neben den Kästen auf, die für mich langsam mehr wie Särge wirken als wie Fitness-Bänke. Jedes Laufband hat eine Nummer, die mit einer der Bänke korrespondiert. So wissen wir beim Wechsel, wo wir hin eilen sollen. Ich stolpere in Richtung Sarg – ähm – Bank.
Tig spricht plötzlich schneller, animierter. Es geht los.
Sie erklärt, welche Übungen auf uns zukommen. Das „Warm-up“ klingt für mich mehr nach einer meiner vollen Trainingseinheiten: Ein Mix aus Ausfallschritten, Skippings und Oberkörpervorbeugen soll uns auf die kommende Belastung einstimmen. Die anderen sollen mit steigendem Tempo auf den Laufbändern laufen.
Orientierungslos beim HIIT-Training
Wo stelle ich das Wasser-Päckchen hin? Während ich noch überlege, beugt sich die Frau neben mir bereits dynamisch nach vorne. Ich stelle mein Wasser auf die Bank und imitiere meine Nachbarin. Die wird schon wissen, was zu tun ist.
Vorbeugen, wieder zurück, vorbeugen, wieder zurück.
Schritte, im Rhythmus der Hip-Hop-Beats, schallen von der anderen Seite des Raums zu mir herüber. Ich spüre die Vorbeugen bereits deutlich nach etwa acht Wiederholungen. Ich glaube, der Muskel wächst bereits. Die untere Rückenmuskulatur ist fest – und ich bereue, dass ich mir nicht eines der Laufbänder für das Warm-Up geschnappt habe.
Jetzt Skippings. „Hoch die Beine. Höher“, säuselt Tig, die selbst die Übungen mühelos performt und uns dabei Anweisung gibt. Wie macht sie das nur?
Dann Ausfallschritte. Runter, rauf, runter, schnauf.
Meine Oberschenkel brennen, als hätte ich Bergsprints gemacht.
“Wie? Das war nur das Aufwärmprogramm?”
Plötzlich höre ich Tig zählen: „Ten, nine, eight … – habe ich was verpasst? Was passiert gerade? Bei „ONE!“ stürzen sich alle um mich herum Richtung Laufband.
Ich quäle mich gerade aus meinem letzten Ausfallschritt. Orientierungslos wie ich bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als den anderen wie ein Lemming zu folgen. Auf dem Weg zum Laufband nehme ich zwei große Schlücke aus meiner Flasche, platziere sie in die Halterung am Laufband.
Ist die echt schon halb leer?
Burpees! BURPEES!
Schweiß läuft mir langsam am Rücken herunter, als ich das Tempo einstelle. Sind das hier eigentlich Miles per Hour oder Kilometer? Das Laufband läuft bereits. Nicht nachdenken, einfach loslaufen. Zuerst Tempostufe acht, dann zehn, zwölf, vierzehn. Links und rechts von mir filmen sich die beiden Influencer*innen im riesigen Spiegel, der sich vor den Laufbändern an der Wand entlang zieht. Ich drossele das Tempo. Seitenstechen. Das Laufband ist zu schnell für mich.
„TWO! ONE!“ Tig zählt schon wieder runter. ZERO. Meine Geschwindigkeit liegt bei null. Meine Beine sind Pudding. Ich schnaufe heftig und vermeide den Blick in den Spiegel. Als ich zurück zu meiner Bank gehe, habe ich Schwierigkeiten niemanden umzurennen. An den Särgen geht es lebhaft weiter.
Mehr Ausfallschritte. Nach vorne. Autsch.
Wechselsprünge. Hoch den Körper.
Runter: Liegestütze – ich kann mich kaum hochdrücken. Ich schaffe vier Medizinballwürfe zum Boden. Danke Gravitation.
“THREE! TWO! ONE!”. Wechsel. Wieder zurück zum Laufband. Bei mir läuft‘s nicht. Sprints? What? Laufe ich noch?
“THREE! TWO! ONE!” Wechsel.
Burpees. BURPEES! Der Boden fühlt sich an wie ein Sumpf. Wir sollen springen, doch meine Beine kleben am Boden fest.
Jetzt mit Hanteln. Über den Kopf. Bloß nicht fallen lassen.
Kniebeugen. “THREE! TWO! ONE!” Wechsel.
Wieder zum Laufband.
Irgendwann ist es vorbei. Kurz noch Yoga auf dem Boden. Ich verharre einfach in der Stellung des Kindes, bis das Training vorbei ist. Meine Flasche ist leer. Ich bin auch alle.
Die Magie des HIIT-Trainings: machen statt denken?
Ich habe kein Gespür dafür, wie lange wir hier waren. Kann mich bitte jemand tragen? Vielleicht ist das auch die Magie, die so viele Menschen in diese Art des Work-Outs zieht. Ich habe keine Zeit zu grübeln, mich in Gedanken zu verlieren. Ist es das, was man als dieses ominöse „Abschalten“ bezeichnet? Oder ist es doch nur aktives Verdrängen? Jedenfalls sind die 50 Minuten so schnell umgegangen, dass ich mich frage, wo die Zeit geblieben ist. Ich lebe noch – das spüre ich deutlich. Mein Körper bebt immer noch vor Anstrengung.
Ich dusche und ziehe mich um – wie in Trance. Als ich die Umkleidekabine verlasse, bekomme ich meinen vorbestellten Eiweiß-Shake in die Hand gedrückt. Den hatte ich schon ganz vergessen. Ein kurzer Glücksmoment. Was besseres kann ich mir in diesem Moment nicht vorstellen.
Danach folgt eine Paneldiskussion mit dem On-Team und den Profi-Läufern Chris Thompson und Andrew “Andy” Vernon.
Ich fühle mich überfahren
Richtig überfahren fühle ich mich erst in den nächsten Tagen. Es war also doch kein „Hit and Run“ im wörtlichen Sinne. Der Muskelkater kommt trotzdem. Besonders mein Oberkörper fühlt sich wund an. Mein Rippenbogen schmerzt, die Arme heben sich nicht so leicht wie sonst. Die sportliche Übersäuerung hat mich gute fünf Tage ausgeknockt.
Ob ich nochmal so ein HIIT-Training machen würde? Auf jeden Fall – auch wenn’s weh tut. In einem Boutique-Fitnessstudio? Vielleicht. Ich muss allerdings zugeben, dass ich mich nicht am Boutique Fitness-Fieber angesteckt habe.
Ausschließen würde ich das Training in den Luxus-Tempeln aber auch nicht. Vielleicht ist das irgendwann genau das, was ich mir gönnen möchte. Bis dahin werde ich mich aber wahrscheinlich immer für ein Training an der frischen Luft entscheiden. Das betäubt die Sinne weniger und lässt Raum zum Denken.