Seit die Wissenschaft die Faszien entdeckt hat, ist die Kommunikation im Körper noch stärker in den Blickpunkt gerückt – auch bei der Entwicklung von Sportbekleidung. Physiotherapeut Georg Wüllner spricht im Interview über Bewegungssinn, Funktionsshirts mit Noppen und Elfmeterschießen.
Achilles Running:* Herr Wüllner, was versteht man unter Bewegungssinn?
Georg Wüllner: Beim Körper- und Bewegungssinn, auch Propriozeption genannt, geht es um die Tiefensensibilität. Im Körper gibt es viele Rezeptoren, die in der Haut, in den Gelenkkapseln, Sehnen, Muskeln und Faszien sitzen und den Körper steuern.
Wie muss man sich das vorstellen?
Wenn Sie beispielsweise Ihre Augen schließen und den Arm 90 Grad beugen sollen, ohne hinzusehen, geben die Rezeptoren im Gelenk die Info ans Gehirn: So geht ein rechter Winkel. Das Gehirn gibt die Info wieder zurück ans Gelenk. Und der Arm stellt 90 Grad ein. Das läuft automatisch ab.
“Eine gute Koordination reduziert Verletzungen”
Ist der Bewegungssinn angeboren oder trainierbar?
Sowohl als auch. Babys lernen, sich von der Horizontale aufzurichten. Sie stehen und laufen. Das ist evolutionsmäßig vorgegeben. Doch um beispielsweise auf einer Slackline balancieren zu können, muss man trainieren.
Je mehr ich also meinen Bewegungssinn schule, desto ausgefeilter sind meine Rezeptoren und desto besser kann ich mich bewegen?
Genau. Wer früh viele verschiedene motorische Bewegungen trainiert, verfeinert seine Sensomotorik. Die Rezeptoren bestimmen dabei die Haltung, Muskel- und Gelenkstellung sowie den Muskeltonus.
Beispiel Elfmeterschießen: Sie schießen, und der Ball geht über das Tor. Der Trainer sagt: Rückenlage. Dann schießen Sie nochmal. Diesmal ist der Ball zu flach. Aus beiden Variationen bilden sie die Mitte, und wenn der Elfmeterschuss dann ins Tor geht, speichern sie diese Informationen ab und erschaffen daraus eine Regel für den nächsten Elfmeter. Dieses Programm muss mehrmals abgerufen werden, um es zu festigen.
Kommt es darauf an, dass ich vor allem in jungen Jahren viele unterschiedliche Bewegungsarten kennenlerne?
Nicht unbedingt, aber es ist ratsam. Im Kindes- und Jugendalter fällt es leichter, solche Bewegungsmuster anzulegen. Kinder, die früh viel klettern dürfen, legen bestimmte motorische Muster an, die als Bewegungsprogramm abgespeichert werden.
Diese Kinder werden es dann leichter haben, später ähnliche Bewegungen zu erlernen. Eine gute Koordination bedeutet, dass Bewegungen ökonomischer ablaufen und die Verletzungsgefahr reduziert wird.
“Wenn ich die Faszien erreichen möchte, brauche ich Noppen”
Welches Gewicht haben Einflüsse von außen?
Gerade im Leistungssport geht es um eine Variationsbreite an Erfahrungen. Man versucht, sich unter möglichst unterschiedlichen Verhältnissen im Training, auf den Ernstfall im Wettkampf vorzubereiten. Skiabfahrtsfahrer*innen etwa trainieren mit eingeschränkter Sicht oder lösen auf dem Weg nach unten eine Matheaufgabe.
Je mehr Reize ich kennenlerne – ob optisch, akustisch, kognitiv oder propriozeptiv –, desto konzentrierter und schneller kann ich agieren und reagieren. Je mehr Erfahrungen ich mache, desto eher werde ich die motorischen Programme automatisch und routinierter abrufen können.
Derzeit entwickelt die Sportindustrie immer mehr Bekleidung, die den Körper stimulieren sollen – über Noppenkonstruktionen. Was bringt das?
Im Leistungssport zählt jedes Detail. Kleine Veränderungen können einen bedeutenden Effekt haben. Bei Kompressionswäsche werden die oberflächlichen Druckrezeptoren stimuliert. Es entsteht eine Art Drainage-Effekt. Sauerstoffarmes Blut kann eher abfließen, sauerstoffreiches Blut strömt ein. Das beschleunigt die Regeneration.
Und was bringen Noppen?
Wenn ich in die tierferliegenden Faszien kommen möchte, brauche ich größere Erhebungen in der Bekleidung. Durch kleine Noppen, die auf der Innenseite von Shirt oder Hose eingearbeitet sind, aktiviere ich die Rezeptoren auf den Faszienschichten. Die Faszien können sich nicht so leicht verfestigen oder verfilzen und beeinflussen die Gleit- und Ernährungseigenschaften der Muskeln positiv.
Und dann bewegt man sich geschmeidiger?
Genau. Es ist eine permanente Mini-Massage der Faszien. Im Idealfall verbessert sich die Haltung und Koordination.
Dynamischer Spielraum statt Zwangsposition
Machen wir nicht den Fehler, durch Bekleidung statt mit Training Schwächen des Körpers ausgleichen zu wollen?
Wichtig ist: Man heilt nicht. Man gibt lediglich eine Richtung vor. Kinesiotapes zum Beispiel helfen, die Grundspannung der Muskeln zu erhöhen oder runterzufahren. Die eigentliche Arbeit macht der Körper selbst, nicht das Tape. Es hilft lediglich dabei, einen Impuls von außen zu setzen, auf den die Rezeptoren reagieren.
Orthopäd*innen setzen Einlagen in Schuhe, um fehlerhafte Fußstellungen auszugleichen. Dieser Eingriff aber hat zur Folge, dass man eher Fehlstellungen in anderen Körperregionen riskiert. Besteht dieses Risiko nicht auch bei der Bekleidung?
Bei harten Einlagen ist das Problem, dass der Fuß in eine Zwangsposition gestellt wird, aus der er nicht mehr raus kann. Die gesamte Verkettungsachse des Körpers – Unterschenkel, Knie, Hüfte usw. – wird gezwungen, sich daran zu orientieren.
Bei Kompressionswäsche, Noppenkonstruktionen oder auch beim Tapen mit Kinesiotape ist immer dynamischer Spielraum. Es gilt nicht die Devise: So viel wie möglich, sondern nur so viel wie nötig.
Zur Person: Georg Wüllner ist Sportphysiotherapeut/ Manualtherapeut und Dozent für Orthopädie und klinische Diagnostik. Er war bereits an der Entwicklung von Sportbekleidung beteiligt. Wüllner arbeitet und lebt in Schmallenberg.
*Um die Antworten des Interviewpartners nicht zu verfälschen, werden lediglich die Fragen gegendert.