Wir Läufer*innen reden über fast alles – Pace und Höhenmeter, Trainingspläne und Wettkampferfahrung, Sport-BHs, Nippelpflaster, Hühneraugen, sogar die Farbe unseres Urins. Aber ein Thema wird gerne umschifft und totgeschwiegen: Sport und Magersucht.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der der Sinn des Lebens darin zu liegen scheint, dass wir immer besser werden. Besser als gestern, besser als jemals zuvor. In diesem ständigen Prozess der Selbstoptimierung mit niemals erreichbarem Ziel scheint unsere Selbstverwirklichung zu liegen. Und dieser Gedanke macht auch vor der Laufszene nicht halt. Neujahrsvorsatz: NEUE PB!
Ein Kilogramm weniger Körpergewicht macht dabei angeblich circa ein Prozent mehr Geschwindigkeit aus. Logisch, wenn wir weniger Gewicht mit uns tragen, müssen wir weniger Masse bewegen. Physik sechste Klasse – Check. Da lohnt es sich doch mal auf das Wurstbrötchen zu verzichten und in den Sellerie zu beißen, oder? Ein wenig Askese und die neue Bestzeit kommt von ganz allein. Das ist völlig in Ordnung, solange es in einem gesunden Rahmen bleibt.
Die Sucht nach mehr Kontrolle
Aber die Gefahr ist groß, süchtig zu werden nach dem unglaublich befriedigenden Gefühl die Kontrolle über sich und seinen Körper haben, sich immer weiter anzutreiben, immer wieder über die Grenzen hinaus. Nach dem Gefühl der Anerkennung und des Lobes, weil man so diszipliniert ist, weil man abgenommen hat und neulich so gut performt hat bei den Intervallen auf der Bahn. Bis man die Kontrolle verliert.
Das Ganze hat einen Namen: Anorexia athletica. Im Gegensatz zur „klassischen“ Magersucht, der Anorexia nervosa, die von einer Besessenheit vom eigenen Körperbild dominiert wird, ist die Anorexia athletica vom Wunsch bestimmt immer bessere Leistungen zu erbringen. Besonders gefährdet sind dabei alle Sportarten, bei denen es auf das Gewicht ankommt und Laufen, insbesondere Langstrecken, gehört eben dazu.
Anorexia athletica geht schnell in eine Magersucht über
Anorexia athletica als Diagnose wird nicht im klinischen Diagnosekatalog ICD-10 geführt – die sportinduzierte Magersucht ist also keine eigenstehende Diagnose. Es besteht aber immer das Risiko in eine Anorexia nervosa abzurutschen.
Prof. Dr. Christina Pechstein, Psychotherapeutin aus Berlin.
Es gibt viele Gemeinsamkeiten mit der Diagnose Anorexia nervosa, der klassischen Magersucht. Auch die sportinduzierte Magersucht charakterisiert sich durch Untergewicht, eine selbstständig herbei geführte Gewichtsabnahme sowie eine endokrine Störung, die sich durch das Ausbleiben der Menstruation zeigt. Bei Männern zeigt sich diese endokrine Störung als Libidoverlust.
Im Gegensatz zur klassischen Magersucht gibt es bei der Anorexia athletica jedoch nicht unbedingt eine Körperschemastörung, d.h. eine verzerrte Wahrnehmung des Körperbildes. Die Athlet*innen setzen das Abnehmen gezielt ein, um einen sportlichen Leistungsvorteil zu erhalten. Beides sind ernstzunehmende Krankheiten, die sich häufig mischen.
Die fehlende Krankheitseinsicht erschwert die Behandlung
Prof. Pechstein
Die gesamte Freizeit, alles Denken und Handeln ist auf das Training ausgelegt. Betroffene erzählen von bis zu acht Stunden Training am Tag. Das soziale Umfeld, Studium oder Beruf und andere Interessen werden vernachlässigt. Sie definieren sich nur noch über erbrachtes Training und Erfolge. Im seltenen Fall, dass ein Training ausfällt, erleben die Betroffenen dies als fast nicht auszuhaltende Situation, ähnlich einem Suchtdruck. Je früher ein Betroffener es schafft, aus der Krankheit rauszukommen, desto geringer die Schäden, so die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Die schweren Folgen einer Anorexia atheltica
Die Folgen einer Anorexie können maximal gravierend sein. Insbesondere, wenn Sportexzess und Unterernährung zusammenkommen: Anfänglich droht die Gefahr ständiger Verletzungen und einem Leistungsabfall, weil der Körper sich nicht erholen kann und immer schwächer wird. Langfristig drohen Osteoporose, eine Störung des Hormonhaushalts, Verlust der Fruchtbarkeit, der Libido, irreparable Nierenschäden bis hin zum Tod.
Magersucht ist die psychische Krankheit mit der höchsten Sterblichkeitsrate, warnt Professor Manfred Fichter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen e.V. Rund 25 Prozent sterben am Versagen des Herz-Kreislauf-Systems. Und das sind die Fälle OHNE exzessiven Sportkonsum.
Möchte man einem Betroffenen helfen gibt es verschiedene Möglichkeiten, sagt Fichter. So sollte man beachten, dass es irgendwann nicht mehr nur um die Leistungsverbesserung geht, sondern um die Kontrolle über den Sport und den Körper an sich. Möglichweise die einzige Kontrolle, die die Person in ihrem sonst vielleicht chaotischen und haltlosen Leben hat. Es geht viel um Bestätigung, um Anerkennung, auch durch sich selbst, und um Halt. Es klingt absurd, aber es geht darum, dass diese Krankheit einem ganz allein gehört und die Person sich von niemandem reinreden lässt, sie ist etwas ganz eigenes. Tatsächlich sind besonders sensible Menschen empfänglich für diese Gedankenmuster. Dabei spielt das Geschlecht keine Rolle, auch wenn Frauen neun Mal häufiger betroffen sind als Männer.
Wie kann ich Betroffenen helfen?
Laufen ist schon lange kein Einzelsport mehr, wir sind eine Community, die auch dann da ist, wenn es jemandem schlecht geht, oder!? Also, lasst uns füreinander da sein. Seht ihr in eurem Umkreis also jemanden, der immer weiter abnimmt bei steigendem Sportpensum in einen ungesunden Bereich hinein, dann seht nicht weg.
Sprecht die Person in einem ruhigen Moment an, lasst euch nicht abwimmeln, holt Freund*innen und Familie hinzu, bietet Hilfe an. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung stellt euch eine Liste mit Beratungsstellen unter bzga-essstoerungen.de zur Verfügung. Und ja, es ist ok, jemandem auf die Pelle zu rücken, besser als wegzusehen, wie jemand in sein Unglück „läuft“.
Oder zweifelt ihr vielleicht derzeit an eurem Verhalten und habt das Gefühl in einen Strudel geraten zu sein aus immer mehr Sport und über-kontrolliertem Essen? „Es gibt universitäre Anlaufstellen von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in Aachen, Berlin, Freiburg, Hannover, Heidelberg, Mannheim und München, bei denen sich Leistungssportler auch erstmal telefonisch anonym mit Fachleuten in Verbindung setzen können (z.B. sportpsychiatrische Sprechstunde in Jena 03641 9-390451).“ rät Frau Prof. Dr. Pechstein.