Achim will, er will. Vor allem eines – nicht wieder schwach werden. Nicht dieses Jahr. Klar, es wird jetzt wieder frischer draußen. Auch feuchter, insgesamt ungemütlicher. Aber zählt das alles für Achim? Hat dies Einfluss auf seine Motivation? Wir fürchten: ja.
Achims Klagelied
Oh, goldner Herbst, wie liebe ich Dich.
Wenn Deine letzten zarten Sonnenstrahlen gelbleuchtende Inseln der Reinheit ins Herbstlaub tupfen, das Eichhorn sich frohgemut auf den Ästen tummelt, dann ist es nur das trampelnde Rhinozeros namens Läufer, das die selige Ruhe des Waldes stört. Dunkle Gedanken verhängen seine Miene, seine dumpfen Schritte klingen nach Wut und Verzweiflung.
Oh, goldner Herbst, wie trügerisch bist Du.
Schon bald wird Matsch dort sein, wo sich jetzt edle Pfade durchs Unterholz winden.
Oh, goldner Herbst, Du alte Mistkröte.
Warum bist Du so schwach, dass Du schon morgen vorbei sein kannst und fortan Deine nasskalte Kehrseite zeigst? Der eisige Wind wird peitschen, das erste Sibirientief lauert schon hinter den Wipfeln. Warum dauerst Du nicht einfach bis März?
Mentale Prüfung
Perfekte Herbsttage bedeuten für Läufer*innen eine unmenschliche mentale Prüfung. Sekunden des Genusses wechseln sich ab mit Stunden des Zweifels. Tage, als man mit geschwellter Brust mitten durch den Biergarten am Schlachtensee galoppierte und fest überzeugt war davon, dass man anerkennendes Frauengeraune hinter sich gehört hatte, das niemandem sonst gelten konnte als dem elastisch dahinfedernden Megaläufer.
Im tiefen Tal der Unlust
Aus und vorbei. Der Ausdauersportler ahnt, was auf ihn zukommt. Schnee statt Frauen auf den Bierbänken. Einsamkeit des Winters. Motivation – was war das gleich noch? Wie zum Teufel rettet man die ohnehin nicht dolle Form durch den Winter?
Es wird eisig sein, dunkel und seelisch schmerzhaft. Die Anziehungskraft der warmen Höhle wird wieder übermenschlich, das Tal der Unlust noch tiefer als die Jahre zuvor. Dass der Wald ab November walkfrei sein wird, ist nur ein schwacher Trost.
Natürlich kann man sich ambitionierte Pläne machen: Mindestens viermal die Woche, morgens oder abends ab halb sieben. Wie toll, die kühle Luft. Doch immer ist es dunkel.
Und immer schreit ein kleines faules Schwein tief drinnen im Hirn: Was soll der Quatsch? Morgen ist auch noch ein Tag, und übermorgen erst. Vielleicht ist es dann wärmer. Oder heller. Oder sonst irgendwie besser. Vielleicht hat man sogar mal wieder Lust. Der nächste Wettlauf ist noch tausend Jahre weit entfernt. Und außerdem zieht es schon wieder dumpf in der Kniegegend. Mit einer nahenden Meniskusquetschung ist nicht zu spaßen. Lieber noch etwas Ruhe. Sofa, ich komme.
Bloß nicht ans Laufen denken
Ja, es nahen die Tage der autumnalen Laktatophobie, wahrscheinlich die weitverbreitetste Läufer*innen-Krankheit. Die autumnale Laktatophobie ist die unglaubliche Panik vorm Laufen in Herbst und Winter und geht oft einher mit der Lachanophobie, unter der außer mir auch Krissie Palmer-Howarth litt, mehr als 40 Jahre.
Die Britin befiel eine unbändige Angst, sobald sie Tomaten, Gurken oder Karotten auch nur sah. In früher Jugend litt sie am Gestank im Gemüseladen ihres Onkels. Ihr weiteres Leben lang konnte sie nicht mal über Gemüse reden.
Geht mir ähnlich: Wenn Mona wieder mit ihrem Sprossensalat an Schlabbertofu ankommt, dann nehme ich mental Reißaus. Wenn ich dann noch irgendwo ein Laufmagazin sehe, dass ich nachlässigerweise noch nicht ganz unten ins Altpapier gepresst habe, dann durchfahren mich Hitzeschübe und Ekel-Attacken. Flucht.
Wahrscheinlich sind es frühe Traumata durch zu lange Aufenthalte in feuchtwarmen Umkleideräumen, die mit übel riechendem Laufzeug vollgestopft waren. Schon der Gedanke an einen Laufschuh stülpt mir den Magen um. Der Geruch von Thermo-Unterwäsche macht mich umgehend bewusstlos.
Krissie Palmer-Howarth hat ihre Lachanophonie mit Hypnose überwunden. Schon nach einer Sitzung konnte sie sich in der Nähe von Gemüse aufhalten, sogar ganz dicht an Brokkoli, den sie mehr hasste als alles andere Grünzeug.
Vielleicht sollte ich Mona bitten, einen Laufschuh am Schnürsenkel vor meiner Nase hin und her pendeln zu lassen. Dazu sagt sie langsam: “Du fühlst Dich gaaanz schnell, Achim, gaaanz leicht. Du willst jetzt sofort ins Freie und deine unbändige Kraft ausprobieren.”
Dann schnippt sie und ich reiße ihr den Schuh aus der Hand, schlüpfe hinein und renne los: Achtmal 2.000 Meter und dann gleich nochmal, weil es so schön war. Morgen probieren wir es vielleicht mal. Oder übermorgen.