Ob Streak-Running, Plank- oder Unterarmstütz-Challenge – wer auf der Suche nach sportlichem Wettkampf ist, findet ihn mit wenigen Klicks im Internet: Online-Challenges. Hier messen sich tausende Menschen täglich miteinander und posten ihre Erfolge bei Instagram, Facebook und Co. Wie sinnvoll sind solche Challenges? Helfen sie uns im Sport voranzukommen? Oder gefährden sie unsere Gesundheit? Ein Gespräch mit Dr. Matthias Marquardt, Facharzt für Innere Medizin, Sportmedizin und Chirotherapie sowie Buchautor („Die Laufbibel“) aus Hannover.
ACHILLES RUNNING: Herr Dr. Marquardt, es gibt jede Menge Menschen, die an Online-Challenges teilnehmen. Bestes Beispiel ist das Streak-Running, bei dem es darum geht, jeden Tag ohne Pause laufen zu gehen. Manche ziehen das 30 Tage durch, andere aber auch ein ganzes Jahr. Was halten Sie davon?*
Matthias Marquardt: Dieses Thema lockt mich immer ganz schön aus der Reserve, denn ich sehe täglich Menschen in meiner Praxis, die es wirklich übertrieben haben und dann mit den Folgen kämpfen. Trotzdem verteufele ich Online-Challenges nicht. Sie können ein super Motivator sein, aber leider auch Probleme auslösen. Manchmal denke ich: Die einen schickt man in ein emotional tolles Abenteuer, die anderen in die große Verletzungs- und Frustrationsmühle.
ACHILLES RUNNING: Woher weiß man, zu welcher Gruppe man gehört?
Matthias Marquardt: Das hängt von vielen Faktoren ab. Wichtig ist vor allem, ob man die physischen Voraussetzungen, also die orthopädische Belastbarkeit dafür mitbringt.
ACHILLES RUNNING: Und wie findet man das heraus? Sollte sich jede/r vor einer Online-Challenge medizinisch durchchecken lassen?
Matthias Marquardt: Klar kann ich jemanden medizinisch durchchecken, Bewegungsanalysen machen, orthopädisch vermessen und eine Fußdruckanalyse machen. Durch die dann zu treffenden Trainingsoptimierungen senke ich natürlich die Wahrscheinlichkeit von Verletzungen. Aber am Ende tut trotz aller Bemühungen dann doch manchmal die Achillessehne oder die Schienbeinkante weh. Online-Challenges sind einfach die perfekte Steilvorlage für Verletzungen.
Wer ohne Pausen läuft und dem Körper keine Zeit zur Regeneration gibt, kann seinen Bändern, Gelenken und Muskeln schaden.
ACHILLES RUNNING: Warum?
Matthias Marquardt: Weil Online-Challenges uns dazu verführen, uns zu überlasten. Nehmen wir mal einen Freizeit-Jogger: Der lief vielleicht immer 20 Kilometer pro Woche. Im Rahmen eines Streak-Runs werden daraus plötzlich 50 Kilometer pro Woche. Und das oft sehr schnell und nicht langsam gesteigert. Ist das Achillessehnen-Problem erst einmal da, kann das Einschränkungen des Trainings für ein ganzes Jahr bedeuten. Wer ohne Pausen läuft und dem Körper keine Zeit zur Regeneration gibt, kann seinen Bändern, Gelenken und Muskeln schaden. Das viel seltenere, aber weitaus größte Schadenspotenzial liegt allerdings im internistischen Bereich.
Online-Challenges bauen einen großen emotionalen Druck auf.
ACHLLES RUNNING: Wie meinen Sie das?
Matthias Marquardt: Online-Challenges bauen einen großen emotionalen Druck auf. Sie sind wie eine heftige motivationale Peitsche. Nehmen wir mal an, da ist ein Läufer, der 200 Tage gestreakt hat, also schon 200 Tage ohne Pause gelaufen ist, und der einen 365-Tage-Streak komplettieren möchte. Wenn der an Tag 201 eine Erkältung mit Halsschmerzen bekommt, was ein guter Grund wäre, sich zu schonen, was macht der wohl?
ACHILLES RUNNING: Weiterlaufen.
Matthias Marquardt: Ja, klar. Zumindest ist die Wahrscheinlichkeit groß, denn schließlich sind bereits 200 Tage geschafft. Das heißt, Online-Challenges bauen einen großen Druck auf, weiterzumachen. Du wirst zwar umso stärker, je länger du schon dabei bist. Diese emotionalen und motivationalen Seiten der Challenges können uns aber zur Unvernunft verleiten. Die Folgen können im oben genannten Fall gefährlich sein: Infekte können bei fortgesetztem Training zu Herzmuskelentzündungen oder Herzklappeninfektionen führen. Das ist ein Spiel mit dem Feuer.
ACHILLES RUNNING: Also lieber Hände weg von Online-Challenges?
Matthias Marquardt: Nein, so streng würde ich das nicht auslegen. Ich bin ja kein Spielverderber. Wir bewegen uns hier in einer Grauzone. Ich verstehe natürlich, dass es Läufer unheimlich motiviert zu streaken. Vor allem für diejenigen, die Schwierigkeiten haben, sich zum Training aufzuraffen sind solche Challenges die beste Motivationsspritze, die ich mir denken kann. Es ist wirklich toll zu erleben, wenn Patientinnen und Patienten es durch einen Streak endlich schaffen, sich täglich bewegen. Internistisch betrachtet haben wir hier wirklich tolle Effekte: Das Gewicht sinkt, der Blutzuckerspiegel sinkt, der Blutdruck wird niedriger. Es ist dabei aber wichtig, dass man auf seinen Körper hört und aufhört, wenn er entsprechende Signale sendet.
ACHILLES RUNNING: Warum schaffen das viele nicht?
Matthias Marquardt: Weil sie dem selbstgemachten und medial noch erhöhten Druck der Challenge nicht nachgeben wollen. Online-Challenges sind auch ein Social-Media-Thema und wer haut schon gerne öffentlich in den Sack? Es geht bei Streak-Runnings oft darum, etwas Außergewöhnliches auf den eigenen Social-Media-Kanälen zu posten. Sei es der Streak oder ein 100-Kilometer-Nachtlauf. Sowas flasht natürlich auf Instagram. Wenn man mal ehrlich ist, ist das aber keine unbedingt gesunde Motivation. Das wäre es, wenn wir morgens aufstünden, uns auf das abendliche Training freuten und es auch mal ausfallen ließen, wenn wir uns nicht danach fühlen – denn dann ist man nicht gepeitscht vom sozialen Druck.
ACHILLES RUNNING: Haben Sie Tipps, wie man sich davon befreien und trotzdem Spaß an Online-Challenges haben kann?
Matthias Marquardt: Ich sage meinen Patientinnen und Patienten immer: Lege vor deinem Streak fest, unter welchen Bedingungen du ihn beendest. Dazu gehören Schmerzen und Fieber. Am besten entscheidet in derartigen Situationen ein Sportarzt, ob das Laufen ohne Gesundheitsschäden fortgesetzt werden kann. Untrainierte Menschen sollten sich außerdem an übliche Empfehlungen halten und mit zwei bis drei Kilometer langen Strecken vorsichtig starten und diese nur langsam auf fünf ausweiten kann. Dreimal laufen pro Woche ist hier sicherlich zunächst ausreichend. Bitte: Kein Challenge-Druck für Anfänger! Für alle Streaker macht es Sinn, zusätzlich Beweglichkeitsübungen und Kraft- und Koordinationsübungen zu machen, weil diese das Verletzungsrisiko senken können.
ACHILLES RUNNING: Sind die Leute denn so ehrlich und reden mit Ihnen über Ihre Challenges? Die meisten werden ja wissen, dass sie gerade unvernünftig sind.
Matthias Marquardt: Ich verstehe die Läufer, auch wenn sie mal Mist machen. Und ich verurteile sie auch dann nicht, wenn sie einmal nicht auf meine Empfehlungen hören. Das wissen die Läufer und deshalb reden wir Klartext. Richtig und falsch sind außerdem keineswegs immer klar zu trennen. Was würden Sie machen, wenn Sie nach der Qualifikation für eine wichtige Meisterschaft und nach neun Monaten hartem Training topfit sind und sich zwei Wochen vorher Ihr Knie meldet? Vernünftig sein und pausieren, bis nichts mehr wehtut oder – nach sorgfältigem Abwägen mit dem Sportarzt – eine Spritze bekommen und durchziehen? Dies vernünftig zu besprechen und abzuwägen, ist eben auch Sportmedizin. Bei einem Streaker an Tag 360 seines 365-Tage-Streaks würde ich dasselbe tun: Abwägen und gemeinsam entscheiden! Wenn es allerdings um eine drohende Herzmuskelentzündung ginge, würde ich ihm mächtig die Leviten lesen, das können Sie mir glauben.
*Um die Antworten der Interviewpartnerin nicht zu verfälschen, werden lediglich die Fragen “gegendert”.