Die Olympischen Spiele in Zeiten von Corona zu veranstalten ist unverantwortlich. Unsere Redakteurin Anna fordert, dass die Olympische Spiele 2020 in Tokio abgesagt oder verschoben werden.
„The games must go on”, das sagte der ehemalige Präsident des Internationalen Olympischen Committes (IOC) Avery Brundage nach den Terrorangriffen am 5. September 1972, während der Olympischen Spiele in München. Damals wurden elf Mitglieder des israelischen Teams von der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ als Geiseln genommen und ermordet.
Die damalige Entscheidung die Spiele fortzusetzen, lösen immer noch Entrüstung und Fassungslosigkeit bei Hinterbliebenen der Opfer aus. Auch heute ist es unerklärlich, wie nach so einer Tragödie einfach weiter gemacht werden konnte, als wäre nichts gewesen.
Manchmal sollte die Show eben nicht weiter gehen. Aus moralischen Gründen. So auch in diesen Tagen.
Sportveranstaltungen werden wegen Corona massenweise gecancelt – warum nicht Olympia?
Fast 50 Jahre später hält das Corona-Virus die Welt in Atem. Große Sportereignisse werden massenweise abgesagt oder verschoben. Die NFL, NBA und NHL haben die Saison bereits abgebrochen. Sogar die UEFA hat die Fußball Europameisterschaften auf 2021 verlegt. Spätestens, wenn Fußball-Events betroffen sind, sollte klar sein, dass die Lage ernst ist.
Eigentlich ist jetzt der Zeitpunkt, dass die Olympischen Spiele abgesagt – oder zumindest verschoben werden. Aber auch in dieser Zeit hält das IOC an seiner Show-Must-Go-On-Philosophie fest. Weder das IOC noch der japanische Premierminister Shinzō Abe scheinen den Ernst der Lage begriffen zu haben.
Abe verkündete noch vor wenigen Tagen gegenüber der BBC, dass die Verbreitung der Infektion gestoppt und die Olympischen Spiele wie geplant stattfinden werden. Auch das “Communique” des IOC, die am 17. März veröffentlicht wurde, erweckt den Eindruck, dass die Veranstalter*innen noch in einer Parallelwelt leben. Das IOC empfiehlt Athlet*innen darin, einfach „so gut wie möglich“ weiter zu trainieren und geht davon aus, dass die Spiele nicht abgesagt werden.
Eine Pandemie verschwindet nicht, indem man sie ignoriert
Natürlich ist das Festhalten dem noblen Grunde geschuldet, das öffentlich Leben aufrecht erhalten zu wollen. Sport ist immerhin etwas mit dem man den Mühlen der Realität entkommen kann. Zur Not auch in Quarantäne.
Außerdem möchte niemand Athlet*innen, die sich bereits seit Jahren auf dieses Event vorbereiten, ihren Lebenstraum nehmen. Wirklich! Niemand möchte das. Aber eine Pandemie kann man eben nicht wegignorieren, wegwünschen oder wegbeten.
Das IOC muss jetzt unangenehme Entscheidungen treffen
Stattdessen ist jetzt verantwortungsvolles Handeln gefragt. Das bedeutet auch, dass das IOC jetzt unangenehme Entscheidungen treffen muss. Ja, auch wirtschaftliche.
Schätzungen zufolge wurden bereits 28 Milliarden Dollar für die Spiele ausgegeben. Das ist ein immenser Schaden für das Veranstaltungsland Japan und das IOC. Genau aus solchen Gründen hat das IOC auch eine Versicherung für solche Fälle abgeschlossen.
Aber eigentlich sollten wir hier nicht über Geld streiten. Denn es geht um Menschenleben, die durch unverantwortliches Verhalten in Gefahr gebracht werden könnten.
Die Olympischen Spiele wären der perfekte Übertragungsort von COVID-19
Laut einer Studie, die im Swiss Medical Weekly veröffentlicht wurde, ist davon auszugehen, dass die Infektionswelle, die wir gerade erleben, leider nur die erste ist. Im Winter 2020/2021 könnte uns eine zweite, größere Welle bevorstehen. Die Wissenschaftler geben weiter an, dass das Reiseverhalten zwischen bestimmten Regionen einen starken Einfluss auf diese Pandemie haben könnte.
Wenn tausende Athlet*innen aus verschiedenen Nationen im Sommer nach Japan aufbrechen, um dort vielleicht auch vor leeren Rängen die Spiele auszutragen, ist das also riskant. Für sie, für ihre Betreuer*innen und auch für die Kampfrichter*innen. Yvonne Maldonado, Professorin an der Standford Universität, forscht zu Infektionskrankheiten. Vor wenigen Tagen bezeichnete sie die Olympischen Spiele bereits als den perfekten Übertragungsort und betonte, dass – wenn man eine Infektionskrankheit verbreiten wolle – die Spiele der ideale Weg wären, dies zu erreichen.
Eine Nicht-Absage der Olympischen Spiele ist eine Gefahr für alle
Die Austragung der Spiele gefährdet daher nicht nur Athlet*innen, sondern auch deren Angehörige und im weitesten Sinne die Weltgemeinschaft. Das ist übrigens nicht erst so, wenn die Spiele ausgetragen werden.
Auch die Vorbereitungsphase, in der sich die Sportler*innen derzeit befinden, stellt ein Risiko dar. Athlet*innen pendeln zu Trainingsstätten, haben Kontakt mit Trainer*innen, Trainingskolleg*innen – soziale Distanziertheit sieht anders aus. Die Stabhochspringerin Katarina Stefanidi bekundete dazu bereits ihren Unmut auf Twitter:
Auf Deutsch: Es geht nicht darum wie es in 4 Monaten aussieht. Es geht um die heutige Lage. Das ICO möchte, dass wir unsere Gesundheit, die unserer Familien und die der Öffentlichkeit riskieren, um täglich zu trainieren? Ihr bringt uns alle heute in Gefahr – nicht in 4 Monaten.
Auch in Deutschland werden die Stimmen lauter, die eine Entscheidung vom IOC fordern. Läufer Philipp Pflieger erklärte bereits im Tagesspiegel, dass er eine Verlegung der Spiele für nötig hält. Er argumentiert dabei nicht nur für Sicherheit, sondern auch für Fairness.
Die Spiele aus Fairness absagen oder verschieben
Bisher haben sich nur 57 Prozent der Athlet*innen für die Spiele qualifiziert. Der Rest bereitet sich auf Qualifikationswettkämpfe vor, die jetzt reihenweise abgesagt werden. Welche tatsächlich stattfinden können, steht in den Sternen. Das ist besonders unfair für Athlet*innen, die hoffen in den nächsten Monaten ein Ticket zu ergattern.
Erschwerend kommt hinzu, dass viele Sportler*innen weltweit auf unterschiedliche Weise von der Krise betroffen sind. Das wirkt sich auf ihren (Trainings-)Alltag aus. Besonders wenn Ausgangssperren erlassen werden, wie zum Beispiel in Bayern, wird es schwierig einen Trainingsplan einzuhalten – selbst, wenn sie das wollten.
Einige, wie die Hürdenläuferin Pamela Dutkiewicz, greifen schon jetzt zu kreativen Mitteln. Sie funktionierte kurzerhand ihre Wohnung zu einer Hürdenbahn um und postete das auf Instagram mit dem Titel „H O M E O F F I C E“.
Eine humorvolle Aktion, die aber die bittere Realität verdeutlicht: Die Vorbereitung auf Olympia und die Qualifikationswettkämpfe ist für viele derzeit nicht möglich.
Klarheit schaffen – Existenzen retten
Viele Athlet*innen bangen aber nicht nur um ihre Vorbereitung. Ganze Existenzen stehen vor dem Aus. Sponsorenverträge sind oft an Leistungen gekoppelt, die jetzt aufgrund ausfallender Wettkämpfe nicht erbracht werden können. Manche Sportler*innen haben keine Sponsoren. Wiederrum andere halten sich mit Halbtagsjobs und Go-Fund-Me-Seiten über Wasser.
Eine verzögerte Absage bedeutet, dass auch diese Personen, in der Hoffnung auf ein Ticket, viel Geld in die nun sowieso erschwerte Vorbereitungsphase stecken und Anmeldegebühren entrichten. Geld, das sie sonst in eine langfristigere Planung oder andere Dinge investieren könnten.
Es geht hier also nicht nur um das Geld derjenigen, die maßgeblich von den Spielen durch Werbeeinnahmen und verkaufte Sendezeiten profitieren. Nein, es betrifft vor allem diejenigen, um die es bei den Spielen eigentlich gehen sollte: die Athlet*innen.
Spiele absagen! Jetzt!
Die Spiele abzusagen wäre eine Entscheidung, die bisher nur in Kriegszeiten getroffen wurde. Bisher geschah das nur dreimal: 1916, während des ersten Weltkriegs und 1940/1944 wegen des zweiten Weltkriegs. Der Kriegsvergleich zur Corona-Pandemie wurde bereits vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron gezogen. Er mag zu weit gehen. Dennoch stellt diese Pandemie eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes dar, die es nicht zu unterschätzen gilt.
Sie betrifft nicht nur Sportler*innen, sondern jede*n Einzelne*n. Eine Absage der Spiele wäre daher nicht nur verantwortungsvoll, sondern auch ein Akt der Solidarität, der sich an alle richtet, die eine Infektion mit dem Virus das Leben kosten würde.
In diesem Sinne: Sagt. Die. Spiele. Ab.