Mit dem Muskelkater ist es so eine Sache: Ist er da, geht er uns so richtig auf die Nerven. Bleibt er aus, sind wir irgendwie auch nicht ganz glücklich. Was steckt hinter der Hassliebe?
Er schmerzt höllisch und gibt uns gleichzeitig ein gutes Gefühl – der Muskelkater nach dem Training. Das fiese Ziehen kennen alle, die Sport machen. Dahinter stecken kleine Risse in den Muskelfasern, die meist nach starker oder ungewohnter körperlicher Belastung auftreten. Die kleinen Risse sind zwar harmlos, haben es aber in sich: Die Muskeln werden steif, hart und druckempfindlich. Sogar das Treppensteigen kann dann gerne mal zur Qual werden. Das Verrückte am Muskelkater: Wir können ihn in der Regel besser ertragen als jede andere Form von Schmerz. Der Hamburger Sportpsychologe Professor Dr. Thorsten Weidig beschreibt Muskelkater deshalb auch als Wohlfühlschmerz. „Schmerzen im Rücken oder Kopfweh könnte man auch passive Schmerzen nennen. Sie befallen uns oder eben nicht. Den Muskelkater haben wir hingegen selbst provoziert. Wir sind ihm nicht ausgeliefert. Er entsteht als Folge von Bewegungen, die wir grundsätzlich mögen. Schon allein das verschafft uns eine positive Einstellung dazu.“
Mein Körper schrie: Aua! Mein Kopf schrie: Schön!
Lauftrainer David Maciejewski
Auch Lauftrainer David Maciejewski kann dem Muskelkater durchaus positive Seiten abgewinnen. Der Hannoveraner erinnert sich noch gut an seine erste Begegnung mit dem unangenehmen Ziehen. „Als ich mit dem Laufen anfing, war dieser Schmerz ein echtes Aha-Erlebnis. Mein Körper schrie: Aua! Aber mein Kopf schrie: Schön!“ Doch warum freut sich der Kopf, wenn der Körper leidet? „Weil wir etwas geleistet haben“, sagt Thorsten Weidig. „Leistung ist in unserer Gesellschaft stark positiv besetzt. Der Muskelkater ist also quasi ein Kompliment an uns selbst.“ Das kann auch Lauftrainer David Maciejewski bestätigen. „Wenn ich Läuferinnen und Läufer trainiere, berichten sie stets mit einem Lächeln von ihrem Muskelkater. Er zeigt ihnen, dass sie sich angestrengt und ihren Körper herausgefordert haben. Es ist wie ein kleiner Sieg über sich selbst.“
Muskelkater als Sinnbild für Disziplin und sportlichen Lifestyle
Aber sagt uns Muskelkater nicht auch, dass wir uns überlastet haben – und womöglich sogar falsch trainiert? Sollten wir den Schmerz also nicht besser vor anderen verbergen? Wer sich in den sozialen Netzwerken umsieht, weiß: keineswegs! Der Hashtag #muskelkater ist beispielsweise bei Instagram mit rund 130.000 Einträgen äußerst beliebt – und wird längst nicht nur von überforderten Laufanfängerinnen und -anfängern benutzt. Im Gegenteil: Vor allem Fotos von bizepstrainierten Adoniskörpern und bauchmuskelgestählten Beachbodys sind mit dem Hashtag verziert. Diese Superprofis sollen Muskelkater haben? So richtig kann man es kaum glauben.
„Super, dass auch mal Niederlagen gezeigt werden“
Lauftrainer David Maciejewski
„Menschen, die ihr Leben nach dem Sport ausgerichtet haben und das auch zeigen, kokettieren sicher auch gerne mit dem Muskelkater“, vermutet Thorsten Weidig. „Sie setzen ihn als Sinnbild für Disziplin und sportlichen Lifestyle ein. Über den Muskelkater drücken sie letztlich aus, dass sie sich richtig reingehängt haben und ehrgeizig sind. Das sind die Werte und Labels, die in unserer Gesellschaft was zählen.“ Und klar: Wer nach dem dreistündigen Fitnessprogramm ein Hochglanzbild vom verschwitzten Superkörper knipst und drunter schreibt: „Heute hart trainiert! Das wird der Muskelkater meines Lebens!“ kriegt sicher deutlich mehr bewundernde Likes als mit einem einfach-ehrlichen: „Heute bin ich ganz schön erschöpft, morgen tut mir sicher alles weh.“
Selbstdarstellung hin oder her – Lauftrainer David Maciejewski sieht es durchaus positiv, dass Muskelkater nicht versteckt wird und auch in den sozialen Netzwerken Thema ist. „Super, wenn Sportlerinnen und Sportler auch mal über Niederlagen berichten. Das gehört zur Wahrheit nun mal dazu. Und für viele Laufanfängerinnen und Laufanfänger ist es beruhigend zu wissen, dass auch andere damit zu kämpfen haben.“
Muskelkater-Frust vermeiden und kleine Ziele anpeilen
Bei aller Euphorie über den Muskelkater birgt er jedoch auch eine Gefahr: Vor allem Laufanfängerinnen und -anfänger rechnen häufig nicht mit dem fiesen Zwiebeln in den Beinen am nächsten Tag – und empfinden den Schmerz als so abschreckend, dass sie gleich wieder aufgeben. Lauftrainer David Maciejewski rät gerade ihnen, sich vom Muskelkater nicht einschüchtern zu lassen. „Man sollte sich vor dem Training klarmachen, dass niemand von jetzt auf gleich zum Supersportler wird.“ Anstatt sich an Bestzeiten von Profis zu orientieren, sollte man sich realistische Ziele setzen. So sieht es auch Sportpsychologe Thorsten Weidig. „Wer das Laufen nicht gewohnt ist, könnte zum Beispiel mit 15 Minuten starten, anstatt gleich eine volle Stunde anzupeilen. So sinkt das Risiko, dass Frust entsteht und die Trainingseinheit vielleicht komplett abgebrochen wird.“
Erst aufwärmen, dann volle Power
Um die Angst vor den Muskelschmerzen zu verlieren, kann es helfen, sie so gut wie möglich in Schach zu halten. Beste Maßnahme dafür ist laut David Maciejewski ein anständiges Aufwärmen vor dem Lauf. Er rät, die ersten zehn Minuten des Laufs konsequent dafür zu nutzen. „Man sollte richtig schön langsam laufen und die Muskeln erstmal auf Betriebstemperatur bringen. Danach kann man dann volle Power geben.“ Auch eine Lockerungseinheit vor dem Training sei sinnvoll. Hier empfiehlt der Lauftrainer ein dynamisches Stretching. Und um den Muskeln nach dem Laufen etwas Gutes zu tun, sollten auch dann einige Dehnübungen folgen. Das muss übrigens nicht unmittelbar nach dem Training erfolgen. Wer will, darf auch erstmal in die warme Badewanne steigen. Vielleicht lassen sich die Muskeln davon bestechen? Und wenn nicht: Dann klopfen wir uns selbst auf die Schulter und legen die Beine einfach mal hoch. Natürlich nur bis zum nächsten Training.