Cantienica-Beckenbodentraining – das scheint Frauensache zu sein. Doch auch Männer können profitieren. Achilles-Autor David Bedürftig hats ausprobiert. Der Selbstversuch eines Rückenschmerzgeplagten.
Wie bin ich da nur reingeraten? Ich wollte doch den Feierabend entspannt im Park verbringen. Oder beim Fußball. Jetzt aber strecke ich mich mit Mittvierzigerinnen in Sportleggins um die Wette.
Schuld hat mein Chefredakteur: Du mit deinen Rückenschmerzen, mach doch mal einen Cantienica-Selbstversuch. Schließlich betreibt die schwangere Kollegin den Beckenbodensport jetzt auch. Danke, Chef.
Gerade versuche ich, meinen Hintern zu einem “Enten-Po” zu formen – während sich meine Matten-Nachbarinnen in graziler Gymnastinnenmanier verbiegen, als gäbe es nichts Natürlicheres.
Mit Cantienica den Tiger in mir wecken?
Das ist Cantienica oder auch Beckenbodentraining. Eine Sportart, die so stark mit Rückbildungstraining assoziiert wird, dass sie Männern, die ja eigentlich auch einen Beckenboden besitzen, wohl meist zu peinlich ist. Dabei soll das Haltungstraining etwa auch die Wirbelsäulenverkrümmung Skoliose oder Beckenschiefstand bis hin zum Hohlkreuz lindern.
“Powertraining mit Tigerfeeling”, so heißt die Buchreihe von Cantienica-Erfinderin Benita Cantieni. So viel Tigerkraft gab’s nicht seit den Kellogg’s Frosties. Zeit also, den Tiger in mir zu wecken.
Der Ort der Raubtier-Heraufbeschwörung: ein kleiner Trainingsraum in Berlin-Schöneberg. Komplettverspiegelt, Marke: Ballettstudio. Super, so sehe ich sofort, wie krumm und schief ich sitze. Ich nehme Platz auf einer grünen Yogamatte – natürlich bin ich der einzige Mann.
Meine Trainerin: Janna Fregin, Ende 30, Typ American Gladiator, freundlich, makellos – und viel zu fit für mich. Ihre Haltung zeigt, dass ihr innerer Tiger schon lange nicht mehr schläft. Ich hocke gleich noch ein wenig krummer da.
“Für mich hat sich Cantienica von Anfang an richtig angefühlt, weil es eine präzise anatomische Anleitung für eine gesunde Körperhaltung ist”, sagt Fregin. Anders als Yoga, das einen spirituellen Ansatz hätte. Und auch anders als Pilates, denn “wir arbeiten viel mit Imagination, damit wir uns die Tiefenmuskeln vorstellen und sie aktivieren können”. In ihrer Stunde gibt Fregin ununterbrochen bildhafte Dehnbefehle und Bewegungsanleitungen. Rund 600 Übungen gibt es, jede Session ist individuell geplant.
“Jetzt durch die Wirbelsäule einen langen Faden ziehen”
“Atme im rechten Becken ein, die Luft durch den Körper hochziehen und am linken Schlüsselbein ausatmen.” Aha. Ich versuche es – wirklich. Aber mein rechtes Bein will nicht nach Luft schnappen. “Jetzt durch die Wirbelsäule einen langen Faden ziehen, am Kronenpunkt ganz oben auf dem Kopf rauskommen lassen und den Kronenpunkt gerade zur Decke hochziehen.”
Ich strecke mich, die Arme nach oben – und fürchte, mein Faden schafft es trotzdem nicht aus meinem Dickschädel heraus. Etwas unbeholfen schaue ich mich um. Meine zwölf Mattennachbarinnen in Dreiviertelleggins stehen kerzengerade und kronenpunkten so perfekt, als gäbe es keinen Morgen.
“Den Bauchnabel wie ein Gummiband hoch Richtung Brustbein dehnen”. Der Cantienica-Slang ist nicht einfach. Aber die konstanten Anleitungen geben mir keine Chance abzuschweifen, ich bin komplett auf die Übungen konzentriert. Nicht schlecht. Und so langsam ergeben die Befehle einen Sinn.
Schambein lang denken, na klar. Gesäßmuskulatur in die Breite entspannen – nichts einfacher als das. Mein Körper übernimmt Fregins gesäuselte Anweisungen. Die stetigen Instruktionen wirken fast meditativ. Ich dehne und strecke wie in Trance. Nie war ich meinem inneren Tiger näher.
Erst der “Enten-Po” holt mich in die Realität zurück. “Das Gesäß weit nach hinten, die Knie gebeugt über die Fersen. Den Po weiter nach hinten ziehen und zum Enten-Po denken.” Auf einmal merke ich, dass mein Körper zittert. Ich schwitze. Die Schöneberger Mittvierzigerinnen zum Glück auch. Ziemlich anstrengend dieser Beckenboden.
Angenehm durchgedehnt und irgendwie größer
“Er ist ein Muskelverbund, der die Organe unten im Becken hält”, erklärt Fregin. “Aber nicht zu verwechseln mit dem Schließmuskel.” In der Hand hält sie ein Beckenboden-Filzstoffmodell Marke Prenzelberger Bio-Kindergarten. “Der Muskel vernetzt sich vorne mit den Bauch- und hinten mit den Rückenmuskeln.” Deshalb sei das Training so effektiv bei Rückenschmerzen, andere Trainings bezögen diese tiefe Muskelvernetzung meist nicht ein.
Das ständige “Langziehen” und der “Enten-Po” haben auch einen Sinn: Cantienica öffne die Beckengelenke und verringere so Ischias-Druckschmerzen.
Nach dem Training spüre ich meinen gesamten Körper. Ob auch das Beckengelenk dabei ist, weiß ich nicht. Aber ich fühle mich tatsächlich angenehm durchgedehnt. Irgendwie größer. Ein erfreulicher Blick in die Spiegelwand: Aufrechter Stand, die Schultern hängen nicht mehr teenagermäßig herunter. Hoffentlich passe ich heute Nacht noch ins Bett.
Die Obertigerin Fregin gibt mir noch einen letzten Tipp mit auf dem Weg, denn Cantienica ist Hilfe zur Selbsthilfe: “Wenn deine Haltung gut ist und du dich genug bewegst, hast du keine Schmerzen. Das ist das Geheimrezept.”
Zu Hause falle ich erschöpft und ohne meine alltäglichen Rückenschmerzen auf die Couch. Uff. Erst mal gemütlich durchs Schlüsselbein ausatmen. Und statt Chips und Bier gibt’s diesmal ‘ne Schüssel Tiger-Frosties dazu. Grrrr.
Von David Bedürftig