Wer zu viel isst, überfordert sich oft nicht nur beim Essen, sondern auch in anderen Bereichen des Lebens – sagt Thomas Frankenbach. Der Ernährungwissenschaftler ist der Meinung, dass wir mehr auf unser Körpergefühl hören sollten, statt strikt Ernährungsregeln zu folgen.
Achilles Running: Unterschätzen wir das Körpergefühl als Faktor für gesunde Ernährung?
Thomas Frankenbach: Ich arbeite in einer Klinik für Verhaltensmedizin. Ich weiß, wie alleine gelassen sich viele Menschen mit den altgedienten Ernährungsempfehlungen fühlen. Wenngleich sich die selben Menschen oft nichts sehnlicher wünschen, als Hilfe in Ernährungsfragen.
Andererseits wird die Rolle des Körpergefühls beim Essen stark unterschätzt, obwohl es eigentlich von zentraler Bedeutung ist.
Was kann Körpergefühl, was Ernährungsempfehlungen nicht können?
Nicht jeder braucht beim Essen das gleiche. Dazu sind wir, obwohl wir alle Menschen sind, zum Teil doch sehr unterschiedlich in unseren Bedürfnissen. Von der Erbmasse her, den Belastungen, vom Tagesrhythmus.
Hierzu gibt es immer mehr Belege aus der Forschung. Personalisierte Medizin heißt das. Doch der Körper sendet oft präzise Signale, was er braucht und was nicht passt. Ob bei der Art der Nahrung, der Menge oder beim richtigen Zeitpunkt.
“Der Körper zeigt präzise an, was seine Bedürfnisse sind”
Und diese Körpersignale kann man einfach so spüren?
Dieses Gespür scheint uns angeboren zu sein, eine Art neurologische Grundausstattung. Erkenntnisse aus der modernen Nervenforschung deuten darauf hin. Nichts desto weniger haben viele von uns schon als Kinder diese Fähigkeit schon fast wieder verlernt oder sie sogar aberzogen bekommen.
Wie können solche Signale aussehen?
Geruch, Geschmack, Mundgefühl, Bekömmlichkeit. Sogar die Stimmung verändert sich je nach Nahrungsmittel-Passung. Ich weiß, das hört sich vollkommen banal an. Aber das ist es nicht.
Wir haben klinisch über Jahre die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen diese Signale nur sehr oberflächlich wahrnehmen können. Vielen ist überhaupt nicht klar, wie präzise der Körper anhand der Sinne anzeigt, was seine Bedürfnisse sind, bis sie sie über ein gezieltes Training kennen und spüren gelernt haben.
Das ist oft lebensverändernd im positiven Sinne. Und es betrifft überraschend viele Menschengruppen, selbst Fitnessinteressierte und Menschen, die sich verhältnismäßig viel mit Ernährung beschäftigen.
Nahrungsvorlieben können aber auch gesellschaftlich geprägt sein, oder?
Ja, sicher. Nichts desto weniger gibt der Körper immer auch Signale, ob er mit dem gesellschaftlich Erlernten zurechtkommt oder nicht. Ob es individuell passt, ob es bekömmlich ist.
Ich kenne Menschen, die gesellschaftlich auf eine bestimmte Kost geprägt waren und dann im Training feststellen mussten, dass das viele Fleisch, das Bier, Mehlspeisen oder das Müsli ihnen überhaupt nicht bekommen.
Da ist der Vorhang teilweise nach 45 Jahren Esstradition aufgegangen. Großartig für die Menschen.
Kritiker*innen könnten sagen, wir werden immer mehr ete petete und immer selbstverliebter, egoistischer und dass das nicht gut sein kann.
Das sehe ich anders. Nur wer seinen tatsächlichen Bedürfnissen nachkommt und sich so in Eigenliebe übt, wird auf Dauer seine Lebenskraft bewahren können. Für sich wie für andere.
Je höher die Lebenserwartung und je mehr von Menschen verlangt wird, desto wichtiger wird es für jeden Einzelnen, herauszufinden was er wirklich braucht, um in seiner Kraft zu sein.
“Viele haben Probleme mit der Verwertung von Kohlenhydraten”
Sie sagen, die Ernährungsbedürfnisse können sich stark unterscheiden.
Das ist nach dem heutigen Stand wohl oft abhängig von der Genetik, aber auch vom individuellen Belastungsprofil und vom Tagesrhythmus. So gibt es offenbar massenhaft Menschen, die Probleme haben mit der Verwertung von größeren Mengen Kohlenhydraten wie Nudeln und Brot.
Wenn sie darauf nicht eingehen, müssen sie mit Stoffwechselstörungen rechnen.
Anderen bekommt das exzellent hin. Das gleiche gibt es auch bei pflanzlicher Kost, auch hier ist nicht alles für jeden Menschen gleich günstig, manchmal sogar schädlich. Man denke dabei nur an die Gruppe Menschen, deren Nierensteinrisiko zunimmt, wenn sie größere Mengen Spinat essen, weil nicht jeder das enthaltene Oxalat verträgt.
Mittlerweile gibt es zahlreiche Nahrungsmittel, von denen man ähnliche Mechanismen kennt. Bei Süßigkeiten und Fastfood deutet vieles auch auf individuell unterschiedliche Entgiftungskapazitäten hin, die letztlich entscheiden, wie sich eine Kost auf den betreffenden Menschen auswirkt.
Meine therapeutische Erfahrung ist, dass viele ganz von selbst bestimmte Essgewohnheiten fallen lassen, wenn sie erst einmal genauer auf ihre Körpersignale achten.
Warum fällt es uns so schwer, die Signale unseres Körpers zu beachten?
Ständig hören wir in den Massenmedien von einer neuen Ernährungsform, die angeblich die beste sein soll. Vor fünf Jahren war es Low Carb, heute Rohkost. Dieser Dogmatismus und dieses Hin und Her verunsichert die Menschen.
Ein Beispiel: Viele Menschen essen Vollkornprodukte, weil sie der Überzeugung sind, Vollkorn sei gesund. Tatsächlich gibt es aber viele Menschen, die Vollkorn gar nicht vertragen. Sie kriegen Bauchschmerzen, Blähungen oder schlimmere Symptome und ignorieren die Signale, die ihnen der Körper sendet. Sie vertrauen nicht auf die Weisheit ihres Körpers, ihre Somatische Intelligenz.
Überforderung durch einen Mangel an Feingefühl also…
Definitiv öfter, als wir vielleicht zuerst einmal glauben würden. Jemand, der sich beim Essen übernimmt, indem er dauerhaft etwas mehr isst, als er verträgt, übernimmt sich oft auch an anderen Schauplätzen im Leben.
Auf der Arbeit, beim eigenen Anspruch, in der Beziehung. Es geht also um Besonnenheit und darum, die Hilferufe, die der Körper ihm sendet, verstehen zu lernen. Beim Essen wie im Leben. Erst, wenn ich wieder ein Gespür für meine individuellen Belange verbessere, kann ich auch besonnen handeln.
Persönlichkeitsentwicklung statt Diät
Dann ist für Sie Ernährungsberatung im herkömmlichen Sinne wirkungslos?
Das möchte ich so nicht unbedingt sagen. Was jedoch die meisten weit mehr bräuchten als eine Diät, sind Persönlichkeitsentwicklung, Eigenliebe und gezieltes Training der Körperwahrnehmung beim Essen. Darauf habe ich mich spezialisiert.
Wie sind Sie darauf gekommen, das Training von Körpergefühl in ihre Behandlungsformen aufzunehmen?
Statt Ernährungsempfehlungen auszusprechen, haben wir irgendwann angefangen, die Zeit zu nutzen um gezielt die Körperwahrnehmung beim Essen zu trainieren. Wir waren einfach nicht zufrieden mit den geringen Effekten einer konventionellen Ernährungsberatung.
Sie sagen, es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Faktor Ernährung und dem Auftreten von psychologischen Problemen?
Definitiv. Ein verbessertes Körpergefühl beim Essen senkt nachweislich das Risiko für Erschöpfungssyndrome und chronische psychologische Stressbelastungen. Das gilt auch für ernährungsbedingte Gewichtsprobleme und Stoffwechselstörungen.
Wie kann man sich das vorstellen?
Bekömmlichkeitsstörungen im Magen-Darm-Trakt beeinflussen über eine Art direkten Informationskanal zwischen Bauch und Kopf, inwieweit im Hirn die so genannten Glückshormone ausgeschüttet werden oder nicht.
Liegen Verdauungsstörungen im Bauch vor, weil wir uns etwas einverleibt haben, was uns nicht bekommt, erzeugt das quasi auch einen dysharmonisierenden Impuls im Kopf. Vereinfacht aber korrekt kann man sagen: Je besser bekömmlich, desto besser ist das auch fürs Gemüt.
“Sich so ernähren, dass man gut im Leben steht”
Wie kann Persönlichkeitsentwicklung helfen, abzunehmen oder sich gesünder zu ernähren?
Auf Dauer mehr zu essen, als einem gut tut, ist letztlich auch eine Form, sich zu überfordern. So, wie man sich chronisch überfordern kann in anderen Lebensbereichen, etwa mit Arbeit. Das ist eine Frage der Persönlichkeit, der Mentalität.
Das geht nicht selten einher mit niedriger Selbstakzeptanz und einem gewissen Nachholbedarf in Sachen Eigenliebe. Das haben wir immer wieder erlebt und berücksichtigen das in unserer Arbeit.
Und was schlagen Sie zur Lösung vor?
Patentlösungen gibt es keine, auch wenn uns das immer wieder erzählen mag. Viele Menschen haben wirklich gute Erfahrungen gemacht mit der Methode, die wir an dem Institut entwickelt haben, an dem ich tätig bin: Systematisches Training der Körperwahrnehmung und gezielte Persönlichkeitsentwicklung.
Ein anderer Weg ist, sich so zu ernähren, dass man gut im Leben steht und Energie hat. Das kann ein Ausdruck von Eigenliebe und Wertschätzug den eigenen Belangen gegenüber sein.
Wenn die da ist, wenn man die entwickeln konnte, fällt es einem auch leichter, beim Essen die eigene Körperwahrnehmung zu beachten und auf sie einzugehen. und sich so zu ernähren, dass es einem wirklich gut tut. An Leib und Seele.
Zur Person: Thomas Frankenbach, Jahrgang 1973, hat Ernährungswissenschaften sowie psychosoziale und integrative Gesundheitswissenschaften studiert. Er berät weltweit Führungskräfte und Spitzensportler in Körperwahrnehmung und Körpersprache.