Wie finde ich Schuhe, die zu meinen Füßen passen? Der Sportwissenschaftler, Bewegungsanalytiker und ehemalige Triathlon-Junioren-Weltmeister Björn Gustafsson über die Tricks der Hersteller*innen und warum Rezept-Einlagen mehr Schaden als Nutzen anrichten.
Achilles Running: Herr Gustafsson, der Laufschuh-Kauf wird immer komplizierter. Angeblich benötigt man eine ausführliche Bewegungsanalyse. Ist das wirklich nötig?
Björn Gustafsson: Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits sehe ich sehr interessante Dinge, wenn ich Leute mit drei Kameras aus unterschiedlichen Positionen beim Laufen filme. Und gerade für Spitzen-Athleten ist eben dies zur Leistungsverbesserung oder im Verletzungsfall sehr hilfreich. Andererseits wird oft eine unnötige wissenschaftliche Dogmatik betrieben.
Vor allem, wenn man nur einmal die Woche eine halbe Stunde im Park laufen gehen möchte?
Richtig. Diese Laufanfänger brauchen erst einmal keine Bewegungsanalyse. Fast alle Schuhe ab 90 Euro sind eine gute Basis. Damit macht sich keiner die Füße kaputt.
“Das Größen-Thema hat die Industrie komplett vergeigt.”
Es gibt eine große Auswahl an Laufschuhen, aber leider keine Einheitlichkeit in den Größen. Woran liegt das?
An Excel: Alle Größen müssen immer in eine Excel-Tabelle geschrieben werden. Das geht aber nicht auf, weil die US- und UK-Größen auf Zoll basieren, die französischen und japanischen wiederum auf metrischer Basis.
Das wandert über die Kontinente über unterschiedliche Produktionsstätten. Die Hersteller versuchen die Größen anzugleichen und verlieren komplett die Übersicht. Das Größen-Thema hat die Industrie komplett vergeigt.
Selbst innerhalb einer Marke sind die Größen nicht einheitlich. Wie finde ich nun die richtige Schuhgröße heraus?
In den Schuh reinschlüpfen und wenn ein Daumen hinten reinpasst, ist er okay. Bei unterschiedlich großen Füßen sollte man nach dem längeren Fuß gehen. Der kurze muss unter dem großen leiden.
Studien besagen, dass die Verletzungsgefahr minimiert wird, wenn Läufer*innen ihre Schuhe als komfortabel empfinden. Versteht nicht jede*r unter Komfort etwas anderes?
Komfort ist sehr individuell und damit undefiniert. Die meisten denken bei Komfort an Weichheit. Ein spartanischer Schuh wie ein Flip Flop kann aber auch komfortabel sein. Es geht um funktionale Stabilität, die eigene Sinneswahrnehmung und Sensorik.
Das heißt, wenn ich finde, dass ein Schuh bequem ist, ist er der richtige?
Jein. Natürlich zählt in erster Linie das persönliche Empfinden. Aber es ist nicht einfach – auch, weil die Hersteller ihre Tricks haben, wie sie den Kunden beim ersten Anprobieren das Gefühl geben, dass der Schuh bequem ist.
Und wie machen sie das?
Wenn die Hersteller den Schuhboden konkav, also gewölbt, bauen, empfindest du das als angenehm. Aus orthopädischer Sicht ist es aber Mist, weil der Fuß nicht gerade liegt, sondern wie in einer Hängematte. Die Kunden können also nach so einer kurzen Anprobe gar nicht einschätzen, ob der Schuh gut ist.
Und wie erkennen sie dann, ob ein Schuh gut ist?
In der momentanen Wissenschaft dreht sich alles um Komfort, Komfort, Komfort. Schwierig – weil jeder was anderes will. Aber das ist es eben. Du steigst in den Schuh und er fühlt sich gut an. Das sind auch eigene Erfahrungswerte.
Der eine mag es hart und passend, der andere lieber etwas weicher und mit mehr Platz für den Vorfuß. Ich selbst stehe eher auf eine flachere und festere Sohle mit wenig Schnickschnack im Schaft.
“Das Paradigma der Orthopädie ist falsch”
Die Schuhtechnik wird immer ausgereifter, unser Körper hingegen degeneriert scheinbar. Werden durch mehr High-Tech-Equipment die Schwächen des Bewegungsapparates kaschiert?
Wenn es nach mir ginge, würde die Welt mit Rasen ausgelegt und alle würden barfuß gehen. Leider ist die Welt aber asphaltiert. Physiotherapeuten sagen immer: Du musst Fußgymnastik machen und abends mit den Zehen ein Handtuch greifen.
Aber in der Realität machen das die Wenigsten. Also: Wir benötigen Schuhe im Alltag und im Sport, nur das Paradigma der Orthopädie ist seit Jahrzehnten falsch.
Welches Paradigma meinen Sie?
Die Grundidee der Orthopädie war lange: Wir müssen den Fuß stützen, stemmen, einmauern, damit wir ihm etwas Gutes tun. Das ist falsch und überholt. Früher haben die Ärzte auch Arme und Beine eingegipst – heute machen sie das größtenteils nicht mehr. Der Körper muss selbst arbeiten.
Die teuren Maßeinlagen bringen nichts?
Es gibt da natürlich Unterschiede, aber die Wirkungsweise der guten alten Kork-Leder-Einlage auf Rezept ist wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Ein Beispiel: Früher haben Ärzte gedacht, dass Flachfüße problematisch seien. Sie haben dir eine Einlage geschustert, die den Fuß wieder aufrichtet. Du legst die Einlage in den Schuh und läufst – nach drei Kilometer hast du eine Blase unterm Fuß, weil die Einlage so hart ist.
Das habe ich damals als Leistungssportler selbst erlebt. Meine Füße haben geblutet. Und was sagt der Orthopäde? “Daran gewöhnst du dich.” Aber das ist Schwachsinn.
Was würde man heute mit einem Flachfuß machen?
Wenn er keine Probleme bereitet, gar nichts. Früher dachte man, dass Flachfüße nach innen knicken – tun sie aber gar nicht. Sie stehen sehr stabil. Flachfüße sind eigentlich gut. Viele afrikanische Läufer haben Flachfüße – und keine Probleme.
“Man kann den Körper nicht von unten aufrichten”
Was bewirken harte Einlagen?
Es gibt den habituellen – also gewohnheitlichen – Bewegungspfad. Das ist die Bewegungsausführung eines Gelenkes, die am wenigsten Widerstand erzeugt. Wer auf diesem Pfad bleibt, bewegt sich für sich selbst ökonomisch und effizient.
Das Ansinnen der Orthopädie ist, einen Störer in diesen Pfad zu setzen. Nur leider können dann wieder an anderen Körperstellen Probleme auftreten, weil man in ein Ausweichmuster verfällt. Durch eine harte Einlage ändert nur der Fuß isoliert seine Stellung. Man kann den Körper aber nicht von unten aufrichten, das müssen die Muskeln tun.
Was kann ich dann tun, um meinen Bewegungsablauf zu verbessern?
Es geht um die neuro-muskuläre Ansteuerung. Als Bewegungsanalytiker will ich bestimmte nervliche, “falsche” Bewegungsmuster aufbrechen und einen “besseren” Ablauf lernen. Das muss zu 70 Prozent aktiv passieren – über üben.
Schuhe und Einlagen spielen also für die Verletzungsvermeidung nur eine untergeordnete Rolle?
Entscheidend ist der Muskel- und Haltungsapparat. Von unten kann man höchstens ein wenig nachhelfen, damit es sich besser anfühlt. Schuhe und Einlagen sollten flexibel sein und dem Fuß die natürliche Pronation, also die Drehung des Fußes nach innen als Teil der körpereigenen Dämpfung, erlauben. Es gibt kein Rezept.
Als Alternative zur harten Einlage gibt es dynamische Einlegesohlen, die unter Belastung nachgeben. Solche flexiblen Einlegesohlen passen sich den Füßen und dem Bewegungsapparat an und machen den Schuh definitiv komfortabler.
Und Studien besagen: Ja, wer sich am Fuß komfortabel, also bequem in seinen Schuhen fühlt, ist weniger verletzt. Da sollten wir mehr auf unser individuelles Bauch- und Fußgefühl hören als auf Stimmen von außen.
Zur Person: Björn Gustafsson ist ein ehemaliger Profi-Triathlet. 1989 wurde er Junioren-Weltmeister. Bereits mit 23 Jahren musste er seine Karriere wegen einer Überlastungsverletzung beenden. Nach dem Studium der Sportwissenschaft widmete er sich ganz der Bewegungsanalyse und gründete sein Unternehmen CURREX. Gustafsson gilt als Experte auf seinem Gebiet und ist Co-Autor der Laufbibel.
*Um die Antworten des Interviewpartners nicht zu verfälschen, werden lediglich die Fragen gegendert.