Rich Roll war alkoholabhängig und übergewichtig, bevor er zum Ultraman wurde. Ein Auszug aus seinem Buch “Finding Ultra – Wie ich meine Midlife-Krise überwand und einer der fittesten Männer der Welt wurde”.
Es war der Abend vor meinem vierzigsten Geburtstag. An jenem kühlen Abend im späten Oktober 2006 schliefen Julie und unsere drei Kinder tief und fest, während ich versuchte, in unserem sonst ziemlich turbulenten Haus ein paar friedliche Momente zu genießen.
Zu meiner allabendlichen Routine gehörte, dass ich es mir bei voll aufgedrehter Lautstärke vor meinem riesigen Flachbildschirm gemütlich machte.
Während ich mich von Law & Order-Wiederholungen einlullen ließ, verputzte ich einen Teller voller Cheeseburger und mümmelte anschließend ein dickes Nikotinkaugummi, das mir diesen wohltuenden Kick verlieh. Das, so hatte ich mich selbst überzeugt, war genau die Art, wie ich am besten relaxte. Ich fand, dass ich mir das nach einem harten Tag verdient hatte. Und dass es harmlos war.
“Ich hatte dem Alkohol endgültig abgeschworen.”
Schließlich kannte ich mich mit schädlichen Dingen aus. Acht Jahre zuvor war ich nach einem mehrtägigen Saufgelage bis zur Besinnungslosigkeit aufgewacht und hatte mich in einem Behandlungszentrum für Alkohol- und Drogensüchtige im ländlichen Oregon wiedergefunden.
Seitdem war ich wie durch ein Wunder trocken geblieben. Ich hatte Tag für Tag gelebt und dem Alkohol endgültig abgeschworen. Ich trank nicht mehr. Ich nahm keine Drogen. Da hatte ich ja wohl das Recht, mich mit ein bisschen Junkfood vollzustopfen.
Doch irgendetwas geschah in dieser Nacht vor meinem Geburtstag. Um kurz vor zwei Uhr morgens hing ich bereits seit fast drei Stunden abgestumpft vor der Glotze, hatte Tausende von Kalorien in mich hineingestopft und war einer Natriumvergiftung nahe. Da mein Bauch voll war und der Nikotinkick nachließ, beschloss ich, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen.
Ich sah noch kurz nach meinen Stiefsöhnen Tyler und Trapper, die in dem Zimmer hinter der Küche schliefen. Ich liebte es, sie schlafend zu betrachten. Sie waren zehn und elf Jahre alt, würden bald Teenager sein und nach Unabhängigkeit streben. Doch im Moment waren sie noch Jungen im Schlafanzug, die in ihrem Etagenbett lagen und vom Skateboard fahren und von Harry Potter träumten.
“Ich war erschöpft, weil ich acht Stufen hinaufgestiegen war.”
Ich schleppte meinen 95-Kilo-Körper im Dunkeln die Treppe hoch, doch auf halbem Weg musste ich eine Pause einlegen; meine Beine fühlten sich schwer an und ich keuchte. Mein Gesicht war heiß, und ich musste mich vornüber beugen, um wieder zu Atem zu kommen. Mein Bauch quoll über den Bund meiner Jeans, die nicht mehr passte.
Mir war übel, und ich betrachtete die Stufen, die ich hinaufgestiegen war. Es waren acht. Genauso viele lagen noch vor mir. Acht Stufen. Ich war neununddreißig Jahre alt und erschöpft, weil ich acht Stufen hinaufgestiegen war. Oh Mann, dachte ich, so weit ist es mit dir gekommen?
Ich schleppte mich langsam nach oben, betrat unser Schlafzimmer und achtete darauf, weder Julie noch unsere zweijährige Tochter Mathis zu wecken, die sich in unserem Bett an ihre Mama gekuschelt hatte ? meine beiden Engel, die vom Mondlicht beschienen wurden, das durchs Fenster fiel. Ich hielt inne, betrachtete die beiden Schlafenden und wartete darauf, dass mein rasender Puls sich beruhigte.
” . . . und auf einmal kullerten mir Tränen die Wangen herunter.”
Auf einmal überkam mich eine verwirrende Mischung von Gefühlen ? ganz eindeutig Liebe, aber auch Schuldgefühle, Scham und eine plötzliche, akute Angst ?, und auf einmal kullerten mir Tränen die Wangen herunter. Vor meinem inneren Auge blitzte plötzlich eine kristallklare Szene von Mathis am Tag ihrer Hochzeit auf. Sie lächelte, neben ihr gingen ihre Brüder, die ihre Trauzeugen waren, und ihre strahlende Mutter.
Doch in diesem Tagtraum fehlte ganz augenscheinlich jemand. Und dieser Jemand war ich. Ich war tot.
Ich spürte ein Kribbeln am Haaransatz im Nacken, das mir schnell den Rücken hinunterlief. Gleichzeitig wurde ich von einer Panikattacke erfasst. Ein Schweißtropfen fiel auf den dunklen Holzfußboden, und ich starrte diesen Tropfen wie gebannt an, als wäre er das Einzige, was mich davor bewahrte, zusammenzubrechen.
Die winzige Kristallkugel sagte mir meine düstere Zukunft voraus: dass ich den Hochzeitstag meiner Tochter nicht mehr erleben würde.
Genug jetzt! Reiß dich zusammen! Ich schüttelte den Kopf und atmete einmal tief durch. Dann schleppte ich mich ins Bad zum Waschbecken und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Als ich den Kopf wieder hob, erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild. Und erstarrte.
Da war nichts mehr von meinem lange gehegten Selbstbild jenes gut aussehenden jungen Schwimm-Champions, der ich mal gewesen war.
“Ich war ein fetter und sehr ungesunder Mann”
Und in diesem Augenblick platzte die Illusion des Nicht-Wahrhaben-Wollens. Zum ersten Mal brach sich die Realität Bahn. Ich war ein fetter, aus der Form geratener und sehr ungesunder Mann, der in rasendem Tempo auf die mittleren Lebensjahre zusteuerte ? eine deprimierte, selbstzerstörerische Person und weit von dem Menschen entfernt, der ich mal gewesen war und der ich sein wollte.
Für den außenstehenden Betrachter schien alles perfekt zu sein. Seit meinem letzten alkoholischen Getränk waren mehr als acht Jahre vergangen. Während dieser Zeit hatte ich mein kaputtes und verzweifeltes Leben in Ordnung gebracht und zu einem wahren Bilderbuchbeispiel des typischen, modernen amerikanischen Erfolgsmodells gemacht.
Nachdem ich an den Unis von Stanford und Cornell meine Abschlüsse eingeheimst und etliche Jahre als Wirtschaftsanwalt in einer großen Kanzlei gearbeitet hatte ? eine alkoholselige Dekade, die von öden Achtzig-Stunden-Wochen, diktatorischen Chefs und Partys bis spät in die Nacht geprägt war ?, war ich schließlich in die Trockenheit geflüchtet und hatte sogar meine eigene erfolgreiche, auf Medienrecht spezialisierte Kanzlei aufgebaut.
Ich hatte eine hübsche, liebevolle, mich unterstützende Frau und drei gesunde Kinder, die mich anhimmelten. Und gemeinsam hatten wir uns unser Traumhaus gebaut.
“Warum fühlte ich mich so mies?”
Was lief also bei mir falsch? Warum fühlte ich mich so mies? Ich hatte alles getan, was man von mir erwartete, und sogar noch mehr als das. Aber ich war nicht nur durcheinander. Ich befand mich im freien Fall.
Doch in diesem speziellen Augenblick wurde ich von der tiefen Erkenntnis erfasst, dass ich mich nicht nur ändern musste, sondern dass ich mich auch ändern wollte. Durch meine abenteuerlichen Ausflüge in die Subkultur der Suchtheilung wusste ich, dass der Verlauf eines Lebens oft in einigen wenigen, genau zu fassenden Momenten bestimmt wird ? durch Entscheidungen, die alles ändern.
Ich wusste nur zu gut, dass man solche Momente nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte. Vielmehr galt es, sie zu schätzen und sie um jeden Preis beim Schopf zu ergreifen, da diese Momente sich einem im Leben nicht allzu oft präsentieren, wenn überhaupt jemals. Wenn man in seinem Leben auch nur einen einzigen derartigen Moment erlebt, kann man sich schon glücklich schätzen.
Wenn man diesen Moment übersieht oder sich auch nur einen Moment abwendet, schließt sich die Tür nicht nur, sie verschwindet buchstäblich.
In meinem Fall wurde mir nun schon zum zweiten Mal eine solche Chance beschert; die erste war jener kostbare Augenblick der Klarheit gewesen, der meinem Entzug vorausgegangen war und mich hatte trocken werden lassen. Als ich in jener Nacht in den Spiegel sah, spürte ich, dass sich dieses Tor erneut für mich öffnete. Ich musste handeln. Aber wie?
“Ich bin ein Mann der Extreme”
Die Sache ist nämlich die: Ich bin ein Mann der Extreme. Ich kann nicht einfach nur einen Drink zu mir nehmen. Entweder bleibe ich absolut trocken, oder ich saufe so viel, dass ich nackt in einem Hotelzimmer in Las Vegas aufwache und keinen blassen Schimmer habe, wie ich dort gelandet bin.
Entweder krabbele ich morgens um Viertel vor fünf aus dem Bett und ziehe in einem Schwimmbecken meine Bahnen ? wie ich es während meiner Teenagerzeit getan habe ?, oder ich sitze auf dem Sofa und stopfe Big Macs in mich hinein.
Ich kann nicht nur eine Tasse Kaffee trinken. Es muss ein Venti (ca. 650ml) sein, eine Mega-Ration, und zwar mit zwei bis fünf Espressos verstärkt, nur so zum Spaß.
Bis heute ist die “Balance” meine letzte Grenze, an die ich stoße ? eine flatterhafte Liebhaberin, hinter der ich trotz ihres Desinteresses weiter her bin. All dies über mich wissend und die Hilfsmittel nutzend, die ich mir beim Trockenwerden und -bleiben angeeignet habe, war mir klar, dass jede wirkliche und anhaltende Änderung meines Lebensstils Strenge, Stringenz und Verantwortlichkeit erfordern würde.
Mit vagen Vorsätzen wie ?besser zu essen? oder vielleicht ?öfter mal ins Fitnessstudio zu gehen? war es bei mir nicht getan. Ich brauchte dringend einen stringenten Plan. Ich musste eine unverrückbare rote Linie ziehen.
Der Text ist ein Auszug aus “Finding Ultra – Wie ich meine Midlife-Krise überwand und einer der fittesten Männer der Welt wurde”, erschienen im Unimedica-Verlag 2015, 384 Seiten, 16,80 Euro.