Du hast noch nie was von Reaktivkraft gehört? Dann wird es höchste Zeit, denn genau die brauchen wir zum Beispiel bei Sprints – und somit auch, wenn wir beim Intervalltraining schneller werden wollen. Um unsere Reaktivkraft zu verbessern oder auch ganz kurzfristig zu aktivieren, reichen tatsächlich schon ein paar wenige, easy Übungen. Welche das sind und welches Timing wir bei der Durchführung beachten sollten, verrät uns Sportwissenschaftler Dr. Julian Bergmann.
Was ist Reaktivkraft?
Wir brauchen Kraft – zum Aufstehen, zum Gehen, zum Laufen. Doch wie genau definiert die Sportwissenschaft Kraft? Grundsätzlich beschreibt sie die Fähigkeit des neuromuskulären Systems, Widerstände zu überwinden oder ihnen entgegenzuwirken. Zudem unterscheidet man verschiedene Kraftarten: Maximalkraft, Schnellkraft, Kraftausdauer und Reaktivkraft. Letztere gerät oft in den Hintergrund, spielt jedoch eine entscheidende Rolle für explosive Bewegungen. Reaktivkraft zeichnet sich durch extrem kurze Bewegungszeiten und hohe Kraftspitzen aus. Sie entsteht durch die schnelle Abfolge von Muskeldehnung und anschließender Muskelverkürzung. Ein gutes Beispiel dafür ist der sogenannte Drop Jump: Man springt von einer Erhöhung, landet auf dem Boden und stößt sich sofort wieder explosiv nach oben ab. Diese Bewegung erzeugt enorme Kraftspitzen. Der Schlüssel zur Reaktivkraft liegt in der Zusammenarbeit von Muskeln und Sehnen. Sobald sich ein Muskel schnell dehnt, senden Muskelspindeln ein Signal ans Gehirn, das eine reflexartige Kontraktion auslöst. So nutzt der Körper die gespeicherte Energie in den Sehnen für die nächste Bewegung. Kängurus beispielsweise, setzen diesen Mechanismus perfekt ein – erzählt Julian.
Viele verwechseln Reaktivkraft mit Schnellkraft, doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Während eine Schnellkraftbewegung wie ein vertikaler Sprung mit einer kurzen Ausholbewegung und Pause vor dem Absprung abläuft, folgt eine reaktive Bewegung ohne Unterbrechung – der Abdruck geschieht unmittelbar nach dem Bodenkontakt. Auch der Begriff „plyometrisches Training“ wird oft synonym zur Reaktivkraft verwendet. Doch nicht jede plyometrische Übung verbessert automatisch die Reaktivkraft. Entscheidend sind, wie erwähnt, extrem kurze Bodenkontaktzeiten und eine optimale Nutzung des Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus.
Reaktivkraft für Läufer:innen: Wozu brauchen wir sie und wie trainieren wir sie?
Warum ist Reaktivkraft für Läufer:innen wichtig? Für lange, gleichmäßige Läufe spielt sie kaum eine Rolle, doch bei explosiven Bewegungen wie Sprints und Intervallen kann sie entscheidend sein. Eine gut entwickelte Reaktivkraft verkürzt die Bodenkontaktzeit, beschleunigt die Kraftentwicklung und optimiert den Energieeinsatz. Wer dynamischer und effizienter laufen will, profitiert deswegen besonders davon. Neben der Leistungssteigerung bietet Reaktivkrafttraining jedoch auch gesundheitliche Vorteile. Regelmäßige reaktive Bewegungen stärken die Sehnenstruktur und können das Risiko für Achillessehnenprobleme verringern. Zudem hilft eine verbesserte neuromuskuläre Ansteuerung, Verletzungen zu vermeiden, da der Körper schneller auf unerwartete Belastungen reagiert. Das schützt vor Umknicken und beugt Überlastungen vor.
Um die Reaktivkraft gezielt zu verbessern, sind kurze Bodenkontaktzeiten essenziell – idealerweise unter 200 Millisekunden. Besonders effektiv sind Drop Jumps, bei denen man von einer Erhöhung springt, kurz den Boden berührt und sich sofort wieder explosiv nach oben abstößt. Auch Hoppings, kleine schnelle Sprünge aus dem Sprunggelenk, eignen sich hervorragend. Ergänzend können isometrische Aktivierungen helfen, indem statische Maximalkraftübungen für wenige Sekunden gehalten werden, um die Muskelaktivierung zu steigern. Der größte Effekt entsteht, wenn Reaktivkrafttraining direkt vor intensiven Einheiten wie Sprints oder Intervallen stattfindet. Da der leistungssteigernde Effekt nur kurz anhält, empfiehlt es sich, die Übungen unmittelbar vor explosiven Bewegungen durchzuführen, erklärt Julian. Wie oft das Training sinnvoll ist, hängt vom Leistungsniveau ab. Einsteiger:innen erzielen bereits mit ein bis zwei kurzen Einheiten pro Woche Fortschritte. Fortgeschrittene sollten die Intensität steigern und das Training häufiger einbauen.
Kraft aus dem Kopf
Müssen wir für das Reaktivkrafttraining überhaupt aufstehen? Überraschenderweise gibt es eine Methode, die genau das infrage stellt: Motor Imagery. Darunter verstehen wir das bewusste Vorstellen einer Bewegung, ohne sie tatsächlich auszuführen. Das klingt vielleicht erstaunlich, ist aber tatsächlich wissenschaftlich belegt. Studien zeigen, dass mentales Training die Reaktivkraft steigern kann. Sportler:innen, die sich eine explosive Bewegung intensiv vorstellen, aktivieren ihre Muskeln stärker und entwickeln mehr Reaktivkraft. Da der Effekt nur kurz anhält, lohnt sich Motor Imagery direkt vor einem Sprint oder Sprung. Auch in der Rehabilitation setzen Athlet:innen diese Technik ein, um den Verlust der Muskelansteuerung zu minimieren und ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Das liegt an der verbesserten neuronalen Ansteuerung: Das Gehirn lernt, die Muskeln effizienter zu aktivieren, auch wenn deren Masse unverändert bleibt. Besonders für Maximalkraftbewegungen bietet diese Technik Vorteile.
Ob Motor Imagery auch schneller macht, hängt jedoch von der jeweiligen Sportart ab. Im Sprint kann eine bessere Voraktivierung der Muskulatur den Start explosiver machen. Für Langstreckenläufe spielt dieser Effekt eine untergeordnete Rolle, da hier andere Faktoren wie die kardiovaskuläre Kapazität wichtiger sind. Mentales Training ergänzt das physische Training sinnvoll, ersetzt es aber nicht. Die beste Strategie kombiniert beide Methoden.
Für weiteres zu den Studien und anderweitige Tipps, hört gerne in die Folge mit Julian rein. Diese findet ihr wie immer auf Spotify, Apple Podcast oder auch im Videoformat auf YouTube!