Gefühle und Gedanken haben einen starken Einfluss auf die Gesundheit. Der renommierte Placebo-Forscher Manfred Schedlowski erklärt, was “Nocebo” ist und warum sich Ärzt*innen so wenig Zeit für ihre Patient*innen nehmen.
Achilles Running: Herr Schedlowski, warum hat der Placebo-Effekt einen so schlechten Ruf?
Manfred Schedlowski: Vielleicht weil er die forschende Pharma-Industrie geärgert hat (lacht).
Wie meinen Sie das?
Der Begriff, so wie wir ihn heute verwenden, stammt aus der Pharma-Forschung, wo jedes Medikament in der Wirksamkeit gegen ein Placebo getestet werden muss. Wenn das Placebo auch wirkt, verdeckt es die Wirksamkeit des Medikaments – und das ärgert die Pharma-Unternehmen.
Die meisten Menschen haben keine hohe Meinung vom Placebo-Effekt, sie tun ihn als eine Art “Medizin durch Einbildung” ab.
Genau. So hat die klinische Medizin auch lange gedacht. Das hat sich aber massiv geändert. Seit 10 bis 15 Jahren wird der Placebo-Effekt intensiv erforscht. Denn er kann bis zu drei Viertel zur Genesung beitragen.
Positive Gefühle haben positiven Einfluss auf die Heilung
Wie würden Sie den Placebo-Effekt definieren?
Er ist die Reaktion des Körpers auf die Gabe eines Placebos. Ein Kollege hat es mal schön formuliert: Der Placebo-Effekt ist die Aktivierung der körpereigenen Apotheke.
Hat die Wissenschaft schon eine Erklärung für die eigenen Selbstheilungskräfte gefunden?
Der Placebo-Effekt wird von drei Mechanismen gesteuert: Erstens: Die Erwartungshaltung einer Patientin oder eines Patienten bezüglich der Wirksamkeit einer Behandlung.
Zweitens: die Lernprozesse. Wenn ich mehrfach gelernt habe, dass Aspirin hilft, hilft mir womöglich auch eine wirkungstofffreie Tablette.
Und drittens: Je größer das Vertrauensverhältnis und je besser die Kommunikation zwischen Ärzt*innen und Patient*innen, desto stärker der Placebo-Effekt.
Können positive Gefühle gesund machen?
So platt kann man das nicht sagen, aber positive Gefühle haben einen positiven Einfluss auf die Heilung. Entscheidend ist: Es ist keine Einbildung. Der Placebo-Effekt schafft tatsächlich messbare, neurochemische Veränderungen in Gehirn und Körper.
“Man darf nicht einfach Placebo-Pillen verschreiben”
Warum nutzen Ärzt*innen diese individuellen Selbstheilungskräfte ihrer Patient*innen so selten?
Dafür gibt es viele Gründe: Der angesprochene schlechte Ruf, Unwille, mangelndes Wissen darüber, wie der Placebo-Effekt nutzbringend eingesetzt werden kann, und ganz praktische Hindernisse.
Da Ärzt*innen eine Aufklärungspflicht gegenüber ihren Patient*innen besitzen, dürfen sie nicht einfach unbemerkt Placebo-Pillen verschreiben.
Zudem gibt es eine gesundheitspolitische Ebene: Viele Ärzt*innen wissen, wie wichtig die Kommunikation mit ihren Patient*innen ist, aber können es sich aufgrund wirtschaftlicher Gründe nicht leisten, lange Gespräche zu führen.
Ärzt*innen sind mit ihrer Praxis eben auch Kleinunternehmer*innen und abhängig davon, was sie mit den Krankenkassen abrechnen können.
Und ausführliche Gespräche mit Patient*innen werden nicht angemessen honoriert.
Genau, und deshalb kehren viele Patient*innen der Schulmedizin enttäuscht den Rücken zu und flüchten zu alternativen Heilmethoden, deren Wirksamkeit nicht immer bewiesen ist.
Es geht auch nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Wir brauchen die Schulmedizin – nach wie vor – müssen aber auch zurückkehren zur einfachen Heilkunst. Und dafür brauchen wir mehr Zeit und Engagement für die Arzt-Patient-Beziehung.
Nicht selten verunsichern Ärzt*innen ihre Patient*innen sogar mit unqualifizierten Äußerungen oder vorschnellen Prognosen.
Stimmt, da fallen dann Sätze wie: “Sie dürfen nichts mehr heben, sonst wird ihr Rückenmark abgequetscht.”
Ja, schuld ist der böse Bruder von Placebo, namens “Nocebo”, der ähnlich funktioniert wie sein Geschwisterchen – nur in die andere Richtung.
In Erwartung von negativen Folgen reagiert der Körper ebenfalls negativ. So kommt es dazu, dass sich solche Sätze sehr nachteilig auf die Lebensqualität sowie die Heilungschancen der Patient*innen auswirken können.
Man muss lernen, weniger Angst zu haben
Wie viel Prozent der Menschen, die täglich zur Ärztin/ zum Arzt gehen, wollen eigentlich nur reden?
Das weiß ich nicht, aber man geht davon aus, dass 50 bis 70 Prozent der Patient*innen, die eine Allgemeinarzt-Praxis aufsuchen, unter funktionellen Störungen leiden.
Das heißt: Da ist morphologisch oder anatomisch gesehen nichts kaputt, nur die Funktion ist gestört: Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme oder Ähnliches. Und meist sind es genau diese Patient*innen, die besonders sensibel auf diese Nocebo-Effekte reagieren.
Wie kommt der Nocebo-Effekt zustande?
Eine große Rolle beim Nocebo-Effekt spielen Angst und Stress. Wenn Menschen ständig unter Stress stehen, steigt die Anfälligkeit für Krankheiten. Man muss lernen, weniger Angst zu haben und seine eigenen Selbstheilungskräfte stärker zu aktivieren.
Und wie mache ich das?
Ich bin ein Arbeiterkind und spreche deshalb immer von der “Anti-Stress-Werkzeugkiste”. Da stecken drei, vier effektive Strategien drin, die mir helfen können: gesunder Lebensstil, Sport und Bewegung, Entspannungstechniken, ausreichend Laufen und Lust zu mehr Spaß am Leben.