Wenn Ulrich Badde einen Marathon absolviert, sieht er nicht, wohin er läuft – denn er ist von klein auf blind. Im Interview spricht der 34-Jährige darüber, wie er Stürze vermeidet, was andere Läufer*innen von ihm denken und warum das Laufen alle Sinne anspricht.
Achilles Running:* Herr Badde, wie reagieren andere, wenn Sie sehen, dass Sie blind Marathon laufen?
Ulrich Badde: Interessanterweise nehmen mich viele im Wettkampf gar nicht wahr. Für mich ist das unvorstellbar, dass andere nicht sehen, dass ich blind bin. Ich trage eine Neon-Warnweste, wo vorne und hinten deutlich “Blind” draufsteht.
Ganz schlimm sind die, die beim Marathon Musik hören. Die sind nur mit sich selbst beschäftigt und sehen nie, dass es einen Grund gibt, warum ich immer neben meinem Partner laufe.
Werden Sie angepöbelt?
Nein, Pöbelei wäre zu viel gesagt, aber wenn wir mal überholen wollen, kommt so was wie: Müsst ihr unbedingt nebeneinander überholen? Könnt ihr nicht hintereinander laufen? Wenn wir dann sagen: Nee, können wir nicht, und die Leute erkennen, was los ist, sind sie meist peinlich berührt. Solche Situationen sind aber glücklicherweise eher selten.
Gibt es auch positive Reaktionen?
Klar, überwiegend zeigen die Läufer unglaublich viel Respekt. 2010 haben mein Partner Werner und ich die Riesenbecker Six-Days mitgemacht, ein Sechs-Tage-Rennen, bei dem man, größtenteils im Gelände, 140 Kilometer zurücklegt. Da haben viele gesagt: Klasse, dass ihr euch das zutraut. So was zu hören, macht Spaß.
Sie laufen mit einem Partner, der Ihnen die Richtung vorgibt. Wie funktioniert das genau?
Der sogenannte Führläufer und ich sind durch ein etwa 30 Zentimeter langes Band verbunden, jeder hält ein Ende in der Hand. Wir laufen nebeneinander. Auf einem geraden, ebenen Weg lassen wir das Band locker. Befinden wir uns im Gelände oder im Wettkampf, nehmen wir das Band kürzer.
Wenn Sie mit jemandem laufen, begeben Sie sich völlig in dessen Hände. Haben Sie keine Angst, dass er sie falsch führt?
Ich bin es gewöhnt, Leuten im wahrsten Sinne des Wortes blind zu vertrauen. Das gehört für mich dazu. Auch im Alltag muss ich anderen vertrauen, wenn ich auf ein Konzert gehe oder auch nur einen Spaziergang mache. Ich gehe aber auch mit niemandem laufen, den ich nicht gut kenne.
Haben Sie sich schon mal verletzt?
Erstaunlich wenig. Mit meinem Laufpartner laufe ich seit 2001 zusammen und wir hatten nur einen Sturz mit einer leichten Abschürfung an der Hand. Das finde ich sehr wenig. Stürze kommen beim Laufen nun mal vor, bei Blinden wie bei Sehenden.
“Ich nehme das Laufen nicht über die Augen, sondern über alle anderen Sinne wahr”
Was bekommen Sie beim Laufen von der Umgebung mit?
Feldwege fühlen sich anders an als Waldwege, asphaltierte Straßen oder Schotter. Du spürst den Untergrund, schmeckst und riechst die Luft, hörst die Boote auf dem See, Vögel im Wald. Ich nehme das Laufen nicht über die Augen, sondern über alle anderen Sinne wahr. Die Umgebung ist mir aber nicht so wichtig.
Sondern?
Für mich geht’s in erster Linie darum: drinnen oder draußen? Und: ebener Weg oder Gelände? Unebener Boden erfordert mehr Konzentration. Da würde ich nicht auf Schnelligkeit laufen oder drei Stunden am Stück rennen.
Was die Umgebung angeht: Ich laufe zwar lieber draußen als auf dem Band, aber gerade vor Marathonläufen trainiere ich gern unabhängig von anderen. Da bin ich froh, dass ich mein Laufband zu Hause habe und so trainieren kann, wie es in meinen Trainingsplan passt.
Wie sind Sie zum Laufen gekommen?
Über meine Familie. Mein erster Partner war mein Vater. Er hat mich begleitet, bis ich das Abi hatte. Danach hat er den Anschluss nicht mehr gekriegt.
Sie waren zu schnell.
Ja. In der Uni habe ich dann beim Laufsportverein Münster angefragt und einen Laufpartner gesucht und gefunden, der ungefähr mein Niveau hatte. Mit ihm laufe ich heute noch.
“Wenn man einen gemeinsamen Rhythmus hat, fliegt man über die Strecke”
Was muss man beachten, wenn man mit Ihnen unterwegs ist?
Leute, die zum ersten Mal mit einem Blinden laufen, haben immer Respekt vor der Sache. Ich versuche, ihnen viel Selbstbewusstsein zu geben. Es ist nicht so schwierig, wie man sich das vorstellt. Deswegen sage ich zu einem Partner immer: Lauf erst mal los! Dann lass uns währenddessen gucken, wie unser Rhythmus am besten zusammenpasst.
Man muss aber schon viel reden, oder?
Wenn man im gemütlichen Tempo die klassische Sonntagsmorgenrunde macht, muss man nicht jede Richtung ansagen. Ich merke anhand des Seils, ob man mich links oder rechts zieht. Was man logischerweise bedenken muss: Dass man doppelt so breit ist, weil man nebeneinander läuft. Man braucht also entsprechend Platz, um an Hindernissen oder an anderen Läufern vorbeizukommen.
Im Gelände ist es natürlich hilfreich, wenn man Baumwurzeln oder Kuhlen ansagt, was vom Führläufer natürlich einiges an Konzentration fordert.
Müssen Ihre Partner bessere Läufer sein als Sie?
Im Wettkampf ist das sinnvoll, wenn mein Laufpartner eigentlich in der Lage wäre, schneller zu laufen als ich. Sonst besteht die Gefahr, dass er aufgrund der zusätzlich erforderlichen Konzentration muskuläre Probleme bekommt oder ihm die Kraft ausgeht. Wenn man einen gemeinsamen Rhythmus hat, fliegt man über die Strecke.
Ist es schon mal passiert, dass Sie einen Lauf abbrechen mussten, weil Ihr Laufpartner nicht mehr konnte?
Für mich gilt: Wir sind ein Team. Das heißt, wir laufen zusammen los und kommen gemeinsam an. Nur bei einem Marathon in Hamburg lief es mal anders. Mein Laufpartner musste aufgrund von Muskelkrämpfen aufgeben. Da hat ein anderer Läufer, der es zufällig gesehen hatte, spontan angeboten zu übernehmen. Das war das einzige Mal, dass ich mit einem anderen Partner angekommen bin, als ich losgelaufen war.
Zur Person: Ulrich Badde, Jahrgang 1978, ist Richter am Landgericht Münster. Er erblindete kurz nach der Geburt und läuft regelmäßig, seit er acht Jahre alt ist. Badde hat ein reguläres Gymnasium besucht. Seine sportlichen Tätigkeiten neben dem Laufen sind Fahrradfahren (Tandem), Schwimmen (an der Außenbahn) und Schlittschuhlaufen (an der Hand). Er hat bereits die Marathon-Wettkämpfe in Berlin, Münster, Mainz, Bonn und Frankfurt mitgemacht. Seine Bestzeit liegt bei sehr guten 3:17 Stunden. Sein nächstes Ziel: der berühmte New-York-Marathon im November.
*Um die Antworten des Interviewpartners nicht zu verfälschen, werden lediglich die Fragen “gegendert”.