Wenn Läufer*innen im Rennen kollabieren, ist das meist nur eine Randnotiz. Werner Dörr ist beim Berliner Halbmarathon 2011 gestartet, aber nie angekommen. Der damals 54-Jährige brach vor der Ziellinie zusammen und war für einige Minuten klinisch tot.
Achilles Running: Herr Dörr, beim Berliner Halbmarathon im vergangenen Jahr wären Sie fast gestorben. Was war passiert?
Werner Dörr: Ich fühlte mich gut, hatte viel trainiert. Es war mein erster Laufwettbewerb, da wollte ich nicht versagen. Nach dem Start habe ich mich schnell von meiner Frau, die auch mitlief, verabschiedet. Wir verabredeten uns für später. Etwa zwei Kilometer vor dem Ziel bekam ich plötzlich sehr starke Krämpfe. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere. Ich bin dann, so hat man mir erzählt, vor der Ziellinie zusammengebrochen.
Sie wurden auf der Strecke wiederbelebt.
Ja, ich hatte Glück, dass ich an der Stelle kollabiert bin, wo die größte Sanitäter*innen-Dichte herrschte. Ich wurde zwei Mal reanimiert.
“Ich hatte keine Erinnerung mehr”
Werner Dörr
Was haben Sie als erstes gedacht, als Sie wieder zu Bewusstsein kamen?
Ich bin nach etwa fünf Tagen aus dem Koma aufgewacht und hatte keine Erinnerung mehr. Ich wusste nicht, welchen Tag wir hatten und wie spät es war.
Was waren Ihre ersten Gedanken, ihre ersten Worte?
Nachdem ich gehört habe, was passiert war, fragte ich angeblich: Und welche Zeit bin ich gelaufen? Das ist symptomatisch für mich, ich bin sehr ehrgeizig. Ich habe aber keine offizielle Wettbewerbszeit, weil ich ja wenige Schritte vor der Ziellinie zusammengebrochen bin.
An der Ziellinie: klinisch tot
Und hier kommt Achim Achilles ins Spiel …
Ja, meine Frau und ich haben morgens Radio gehört, wo ein Beitrag von Achim Achilles lief. Darin sagte er: “Ich werde nie den armen Kerl vergessen, der beim Berliner Halbmarathon kurz vor dem Ziel auf dem Mittelstreifen lag, alle Viere von sich gestreckt.” Da sagte meine Frau: Mensch, dieser “arme Kerl” bist du. Dieses Bild von mir – an der Ziellinie, klinisch tot – existierte bis dahin gar nicht in meinem Kopf. Das hat mich sehr bewegt.
Sind sie den Läufer*innen böse, die im Endspurt – in der Hoffnung auf eine gute Zeit – an ihnen vorbeirannten, während Sanitäter*innen um Ihr Leben kämpften?
Nein, ich kann das gut nachvollziehen. Ich glaube, alle Läufer*innen, mich eingeschlossen, wären von jemandem, der da leblos an der Ziellinie liegt, zwar seltsam bewegt. Aber was hätte ich gemacht? Ich wäre wahrscheinlich auch vorbei gelaufen. Meine Frau hat später erzählt, dass sie während des Laufs Platz machen musste – für einen Krankenwagen. Sie war genervt davon, wie so viele andere Läufer*innen, die auf Ihre Zeit gucken. Sehr makaber: In diesem Krankenwagen habe wohl ich gelegen.
“Ich hatte starke Halluzinationen”
Werner Dörr
Sie wurden ins künstliche Koma versetzt. Wie geht es Ihnen heute?
Körperlich geht’s mir gut, neurologisch ist auch nichts zurückgeblieben. Aber vor allem seelisch mache ich seitdem einiges durch. Die Genesungsphase im Krankenhaus war heftig. Ich war psychisch sehr erschüttert. Wenn für den nächsten Tag Regen angesagt wurde, musste ich weinen. Ich weiß nicht, warum. Zudem hatte ich starke Halluzinationen, die ich mit Medikamenten bekämpfen musste. Es war sehr hart. Danach aber ging es schnell steil bergauf.
Viele Menschen, die eine Nahtod-Erfahrung gemacht haben, berichten von einem Tunnel, einem hellen Licht oder einem warmen Gefühl. Wie haben Sie den Moment erlebt?
Ich hatte nichts davon. Gar nichts. Auch direkt vorher habe ich nichts gespürt. Kein Schmerz, keine Atemnot, kein Schwindel. Ich war von einem Moment auf den anderen weg.
“Ich weiß nichts mehr”
Werner Dörr
Haben Sie noch Erinnerungen an den Lauf?
Ich erinnere mich ans Warten und die Musik im Startblock. Ich glaube, ich habe auch unterwegs jemanden getroffen, den ich kannte. Kleinere Episoden von der Strecke tauchen hin und wieder auf, aber sonst weiß ich nichts mehr.
Dürfen Sie denn wieder Sport treiben?
Von den Ärzt*innen her darf ich alles: Laufen, Tennis, alles kein Problem. Aber ich bin stark verunsichert. Ein verstopftes Herzkranzgefäß wurde mir durch einen Stent erweitert. Zudem wurde mir ein Defibrillator eingepflanzt, der mir im nochmaligen Notfall einen Elektroschock versetzen könnte. Ich laufe auch wieder – immer mit Pulsuhr.
Wie gehen Sie ihr “zweites Leben” an?
Ich bin vorsichtiger und habe meinen sportlichen Ehrgeiz etwas heruntergefahren. Das ist zu viel Stress, ich lerne Gitarrespielen und will mich mehr musischen Dingen widmen. Aber ich habe mein Leben nicht radikal geändert.
“Was mir zu schaffen macht, ist die geringe Dankbarkeit, die ich verspüre”
Werner Dörr
Keine neuen Lebensträume, die Sie sich verwirklichen wollen?
Das ist das, was mich zurzeit beschäftigt. Ich höre ständig: “So ein Erlebnis verändert das Leben.” Die Leute denken: Ich bereise die Welt, steige völlig aus – aber das ist bei mir nicht der Fall. Im Großen und Ganzen mache ich so weiter wie immer. Da hadere ich auch mit mir: Ich rege mich teilweise noch über dieselben Sachen auf wie früher.
Was mir auch zu schaffen macht, ist die geringe Dankbarkeit, die ich verspüre. Mir wurde ein Leben geschenkt – und trotzdem kann ich mein Leben nicht einfach bewusster oder stressfreier genießen. Dabei habe ich sensationelles Glück gehabt. Ich war vorher tausende Male allein im Wald oder im Park unterwegs. Wäre mir das da passiert, wäre ich jetzt tot oder säße im Rollstuhl. So ein Glück hat nicht jede*r.
Werden Sie sich den Halbmarathon in diesem Jahr anschauen?
Ich weiß es noch nicht. Bislang bin ich dieser Frage aus dem Weg gegangen, weil ich nicht weiß, ob mich das Dabeisein seltsam berührt. Im Übrigen hat meine Frau meine Laufklamotten von dem Halbmarathon im vergangenen Jahr weggeschmissen – auch das offizielle Teilnehmer*innen-Shirt. Das ist eigentlich schade. Ich hätte gerne noch ein Erinnerungsstück an meinen letzten Wettkampf gehabt.
Werner Dörr, Jahrgang 1957, ist Lehrer an einer Berliner Förderschule für Sprache. Der passionierte Tennisspieler und Hobby-Läufer ist beim Berliner Halbmarathon 2011 kurz vor der Ziellinie zusammengebrochen und musste wiederbelebt werden. Laut Ärzt*innen war es aber kein Herzinfarkt. Die genaue Ursache ist bis heute unbekannt.