Marathon ohne hartes Training ist nicht drin. Dazu gehört das Konditionbolzen – aber auch mentales Training. Ein Sportpsychologe erklärt, wie das am besten funktioniert.
Achilles Running: Herr Professor Stoll, wie bereitet man sich mental auf einen Marathon vor?
Oliver Stoll: So ein großes Rennen entscheidet sich in der Vorbereitung. Schon während der Trainingsphase, vor allem auf den langen Läufen, lernt man, was im Wettkampf auf einen zukommt. Eine mentale Hilfe ist es auch, sich den Marathon in 10-km-Abschnitte zu unterteilen.
Außerdem ist ein Handlungsplan wichtig: Dazu gehört eine vernünftige Temporegulierung, für die man allerdings die Strecke kennen sollte.
“das Rennen vor dem inneren Auge durchgehen”
Wie lässt sich auch der Kopf für einen Marathon trainieren?
Es gibt drei Bereiche, die man dafür trainieren kann. Zum einen die Aufmerksamkeitsregulierung: Man stellt sich sein Drehbuch für den Marathon zusammen. Darin gibt man sich Selbstinstruktionen, wie zum Beispiel, dass auf die Muskulatur zu achten und das Tempo kontrolliert anzugehen.
Vor dem Start ist es hilfreich, das Rennen vor dem inneren Auge durchzugehen. Der zweite Bereich ist die Motivationsregulierung.
Um diese für sich einzusetzen, sollte man realistische Ziele verfolgen und adäquat mit Erfolg und Misserfolg umgehen. Man sollte sich kurz-, mittel- und langfristige Ziele setzen und von Zeit zu Zeit überprüfen, ob man im Plan ist.
Was sollte man tun, wenn bei einem mittelfristigen Ziel, zum Beispiel einem 10-km-Rennen in der Vorbereitung, nicht das gewünschte Resultat herauskommt?
In diesem Fall würde ich raten, genau zu analysieren, was schief gelaufen ist. War das angepeilte Ziel adäquat? Wenn ja, was habe ich falsch gemacht, dass ich mein Ziel nicht erreicht habe? Aber kommen wir noch auf den dritten Bereich zu sprechen: die Emotionsregulierung.
Hierbei sollte man sich mit kritischen Situationen im Rennen befassen. Der Läufer sollte dann wissen, was er tun kann, zum Beispiel funktionale Selbstgespräche führen.
Wie hört sich so ein Selbstgespräch an?
Man sagt sich: Es ist ja nicht mehr weit. Oder man erstellt sich vorab andere Bewältigungsstrategien: Was kann ich tun, wenn ich einbreche? Man muss sich die Antworten auf diese Fragen aber schon vor dem Wettkampf zurecht legen, um sie im entscheidenden Moment einsetzen zu können.
Das hilft dann, die schlechte Situation herunterzuspielen. Es ist auch möglich, sich vorab mit visuellen Eindrücken zu motivieren. Diese ruft man dann ab, wenn man glaubt, es geht nicht mehr.
“Tricksen kann man nicht.”
Welche mentalen Tricks empfehlen Sie für den Wettkampftag?
Tricksen kann man nicht. Mentale Stärke muss man systematisch aufbauen, genauso wie man die körperliche Ausdauer in der Vorbereitung trainiert. Am Wettkampftag darf man sich nicht verrückt machen.
Manche Menschen befürchten vor Entscheidungen, dass sie scheitern, obwohl sie gar keinen Grund dazu haben. Ist man zu hoch aktiviert, sollte man sich entspannen, locker bleiben und die Gefühle kontrollieren.
Wie entspannt man sich am besten vor so einer Herausforderung?
Indem man Dehn- oder Atemübungen macht. Es hilft auch, sich hinzulegen und über den iPod ruhige Musik zu hören – all das sind naive Methoden, die bei den meisten Freizeitsportlern funktionieren. Hochleistungssportlern rate ich zu klinischen Methoden: autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation.
Viele Marathonläufer*innen betreten ab Kilometer 30 Neuland, weil sie während der Vorbereitung nie weiter gelaufen sind. Was raten Sie ihnen?
Novizen sollten sich im Klaren sein, dass sie sich nicht erst ab dem 30. Kilometer, sondern schon ab dem ersten auf unbekanntem Gebiet bewegen. Auch hier rate ich, sich nicht verrückt zu machen.
Also erst gar nicht an den Mann mit dem Hammer denken, sondern jeden Kilometer als neue Erfahrung verbuchen. Wenn jemand gut trainiert ist und den Marathon wirklich langsam angeht, ist es ab Kilometer 30 gar nicht viel schwerer als vorher.
Gedanken ans Aufgeben sollte man isolieren. Wenn es schwierig wird, muss man hoffnungsorientiert denken.
Wie denkt man so?
Zum Beispiel, indem man die ausstehenden Kilometer bis ins Ziel herunterzählt.
Kann man körperliche Defizite mental ausgleichen?
Nein, man kann mit der Psyche weder Trainingsdefizite noch körperliche Nachteile wettmachen. Bei zwei gleich gut trainierten Läufern, kann man allerdings davon ausgehen, dass derjenige mit der stärkeren Psyche besser abschneidet. Die Psyche ist das Zünglein an der Waage.
“sich vorstellen, wie man ins Ziel läuft”
Woran sollte man denken, wenn man kurz vor einem Abbruch steht?
Dieter Baumann hatte mal angekündigt einen Marathon in 2:12 Stunden zu laufen, obwohl er gar kein Marathonläufer ist. Nach der Hälfte merkte er, dass er sein Ziel nicht erreicht und ist ausgestiegen. Das war konsequent, denn er brauchte niemandem zu beweisen, dass er ankommt.
Für einen gut trainierten Hobbyläufer ist es zu früh, nach der Halbmarathon-Distanz auszusteigen. Und wer nach 35 Kilometern noch im Rennen ist, sollte nicht an Aufgabe denken, sondern kämpfen. Man muss sich dann schöne Gedanken machen, sich vorstellen, wie man ins Ziel läuft.
Oder wie sich die Medaille um den Hals anfühlt. Es hilft, mit Bildern zu arbeiten, die einen antreiben. Manchmal reicht es auch, 50 Meter zu gehen oder sich an einer Verpflegungsstation zehn Sekunden Zeit zum Trinken zu lassen.
Man sollte aber nicht zu lange warten, denn dann wird es schwer, wieder ins Rennen zu kommen.
Wie geht man damit um, wenn man abbricht oder seine Zielzeit verpasst?
Entspannen, egal wie das Rennen gelaufen ist. Eine Nacht darüber schlafen und anschließend mit anderen Läufern oder dem Trainer darüber sprechen. Es kommt darauf an, Fehler ehrlich, realistisch und rational zu analysieren. Stellen Sie sich die Frage: Was ist an diesem Tag schief gelaufen?
Wenn die Gründe für das Scheitern situativ waren, also an der Tagesform oder dem unpassenden Wetter gelegen haben, dann sollte man nicht an seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten zweifeln.
Egal, an was Sie gescheitert sind: Das Ergebnis der Fehleranalyse müssen Sie anerkennen, schnell abhaken und das nächste Ziel ins Auge fassen.
Zur Person: Oliver Stoll ist Professor für Sportpsychologie und Sportpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 1983 absolvierte er zahlreiche Marathons, mehrere Ultralangstreckenläufe und finishte den Ironman-Europe und den Hawaii-Ironman. Bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking gehöhrte er als Psychologe zum deutschen Olympiateam.